Kapitel 1
Welch exotische Schönheit! Völlig unbekannt. Vor einem geschulten Auge kann sich diese Pflanze nicht verstecken. Wie eine Motte vom Licht angezogen, verschleppt es den Alchemisten zum Fund. Die moosgrünen Augen leuchten vor Neugier. Der Mund öffnet sich vor Staunen und das Herz schlägt ganz wild vor Aufregung. Sechs Einzelblüten an einem spärlich feinflaumig behaarten Stängel. Ein Blütenstand ähnlich wie bei einer Traube. Aber eine jede verströmt einen intensiv süßen Duft und brüstet sich mit kräftigen Farben. Maximal drei Zentimeter lange Blütenkronen in einem leuchtenden Violett-Rosa. Die Form des Kelchs ähnelt einer Orchidee.
Die Entdeckung ist zum Greifen nah und doch vergisst Clive gerne seine Umgebung. Ein Räuspern, und die Blase des Glücks zerplatzt. Tief und rau klingt der Laut. Passend zu dem ungepflegten Herr, der sich ihm in den Weg stellt. Der Gestank von Bier vertreibt die süßliche Note der Blüte. Statt sich in wilder Natur wiederzufinden, verschlägt es den Alchemisten in eine Stadt. Gepresst in einer dichten Menschenmenge. Für gewöhnlich ließe sich solch ein Fund an einem der Kräuterstände ausfindig machen, ein Blick hinauf zeigt jedoch, dass die Pflanze Trost in dunklen Zeiten spendet. In den Händen einer junger Frau. Sie fiel Sklavenhändlern zum Opfer und befindet sich nun eingesperrt in einem Käfig. Angst vor einer ungewissen Zukunft steht ihr ins Gesicht geschrieben und doch beweist sie unfassbare Stärke und Anmut, denn sie hält den Kopf oben und scheut keinen Augenkontakt. Solch ozeanblaue Augen lassen Clive an seinen letzten Besuch am Meer erinnern und er verspürt die Sehnsucht, diesen wundervollen Ort erneut aufzusuchen. Ein Blick auf ihre Statur zeigt, dass sie entweder gutbehandelt wird oder erst frisch ihrer Freiheit beraubt wurde. Denn ihr Körper wirkt wohlgenährt, nicht mager, aber auch keine Spuren von fauler Haut. Jemand, der viel Wert auf die eigene Gesundheit legt. Er erblickt stolze Kurven auf die viele Frauen neidisch sein könnten. Die Beine wirken athletisch wie bei einer Straßenkünstlerin. Ihre Kleidung sorgt für Aufsehen. Leder statt einem Kleid aus Baumwolle. Die Tracht überrascht mit großer Freizügigkeit, mit einem knappen Rock und freien Schultern. Ihre langen, fliederfarbenen Haare sind zu ungewöhnlich dicken Flechten gewunden. Untypisch für diese Region. Der Hals und die Arme sind kunstvoll bemalt. Mit schwarzer Farbe, die anfängt auszubleichen. Solch eine Körperbemalung bekam Clive noch nie zu Gesicht. Es gibt zwar einen Stamm weit im Norden, der für solche Kriegsbemalungen bekannt ist. Doch die Zeichen bei ihr sind nicht abschreckend oder beängstigend. Er glaubt, das eine oder andere Tier auf ihren Armen zu erkennen.
Woher sie wohl kommt?
Wie weit sie wohl von ihrem Zuhause weg ist?
Ein weiteres Detail sorgt für besonders viel Aufsehen, denn aus ihrem Rücken schauen Schmetterlingsflügel in einem strahlenden Weiß hervor. Selbst die dunkelste Nacht wird ihr Licht nicht verdecken können. Er hielt dies für ein Schmuckelement, womit Schauspieler die Welt unterhalten. Eine Art Verkleidung. Doch die Flügel bewegen sich synchron. Unauffällig langsam und ein genauerer Blick lässt ihn vermuten, dass es hier um die Substanz Chitin handelt. Ein Protein und das Grundmaterial für Schmetterlingsflügel. Zu detailliert und aufwendig, um solch ein Attrappe nachzubauen. Besonders nicht in solch einer Größe.
„Ihr habt ein gutes Auge, der Herr. Eure Neugier verstehe ich zu gut, doch bitte tretet einen Schritt zurück, damit auch andere Kunden die Ware begutachten können.“
Der ungepflegte Mann in dreckiger Kleidung beweist sich in der Redekunst. Höflich, fast schon schleimig. Mehr Schauspiel, als ehrlicher Respekt. Eine Zahnlücke springt Clive direkt bei seinem dreckigen Grinsen ins Auge. Wut kocht in dem Alchemisten, wenn ein Sklavenhändler das Wort Ware in den Mund nimmt. Ohne Scham und Reue. Aus nächster Nähe bemerkt Clive das leichte Zittern, was die Dame im Käfig nicht im Griff bekommt. Ähnlich wie die anderen Sklaven neben ihr. Überwiegend viele junge Frauen, sogar wenige Kinder und nur zwei junge Männer. Beide mit leeren Blick, als haben ihre Peiniger sie gebrochen. Widerwillig tritt Clive zurück. Auf die gewünschte Distanz. Mit steifem Kiefer und geballter Faust. Zu seinem Bedauern muss er sich bedeckt halten. Negativ aufzufallen könnte seine Karriere kosten.
Als junger Alchemist bietet sich Clive noch die Gelegenheit, um die Welt zu bereisen. Bevor er sich seinen Studien im Magisterturm widmet, darf er diese wundervolle Reise mit seinem starken Begleiter Linus antreten. Ein junger Söldner, deren Gilde seit Generationen mit dem Magisterturm zusammenarbeitet. Linus mag jung und unerfahren sein und doch bewies er sich bereits auf seinen ersten Missionen vor dem Begleitschutz. Clives Ausbilder hat großes Vertrauen in dem Burschen und so wurde er für diese Reise angeheuert. Ein großer Vorteil ist der geringe Altersunterschied. Clive gilt mit nur neun Monaten als der Ältere von den beiden. Die Unterhaltung zwischen den Begleitern wirken bereits sehr vertraut und freundschaftlich. Auch wenn Linus Regeln und Pflichten zu ernst nimmt und Clives gedankenloses Verhalten gerne tadelt. Wie auch in Momenten, wie diesen.
„Clive! Mensch, Clive! Geh da weg! Du solltest besser nicht für Aufsehen sorgen!“
Der besorgte Begleiter tritt mit seiner schweren Rüstung an ihn heran. Sein helles Haar hält er stets kurz geschnitten, was ihn umso strenger aussehen lässt. Er mag nicht in die Breite gebaut sein und doch hat er einen sehr athletischen Körper. Seine dunklen Augen fixieren Clive an, unterstreichen seine flehende Bitte.
Mit dem hastigen, überfürsorglichen Verhalten erschreckt Linus die geflügelte Frau, denn diese rutscht mit bleichem Gesicht von den Gitterstäben fort. Wenn Clive nur könnte, würde er ihr die stille Träne aus dem Gesicht streichen und ihr versichern, dass bald alles wieder gut wird. In dunklen Zeiten wie diesen würde er sich an ihrer Stelle über Hoffnungsblicke freuen. Ein nettes Gespräch mit ehrlicher Sorge wäre ein Anfang. Daher hebt Clive den Kopf und wendet sich bewusst an den Sklavenhändler mit der Zahnlücke.
„Würde es den Herrn stören, wenn ich mich mit der Dame unterhalte?“
Eine einfache Unterhaltung. Ein Kundenwunsch, obwohl auch das so nicht stimmt, denn Clive mag sich am Sklavenhandel nicht beteiligen. Ein Alchemist mag gut verdienen, besser als gedacht, und doch reicht es nicht, um all die Sklaven freizukaufen. Es wäre kontraproduktiv, denn allein der Profit würde diese schrecklichen Menschen animieren, noch mehr Sklaven einzufangen. Mit genügend Einfluss könnte Clive die Thematik in der Politik vertiefen. Ein Gedanke, der den Alchemisten schon länger im Kopf geistert.
Der Händler zögert zu lang, wiegt Pro und Kontra sicherlich ab. Gerät sogar ins Schwitzen, weil ihm keine passende Ausrede vor dem versammelten Publikum einfällt. Zögerlich tritt er zur Seite. Mit einer einladenden Geste.
„Bitte der Herr, aber haltet Euch kurz.“
Linus seufzt laut. Seine Art, seinen Missmut kundzutun. Für Clive eine erfreuliche Wendung. Eine Chance, die er direkt wahrnehmen mag.
Der Alchemist befasst sich gedanklich mit einer Reihe möglicher Erklärungen hinter dem Geheimnis der Flügel. Zu seinem Bedauern weiß Clive einfach zu wenig über Hexen im Reich Dandrals. Fakt ist, dass Frauen mit Gaben gefürchtet von der Gesellschaft werden. Die Überlieferungen warnen vor dem äußeren Schein. Wie schöne Blumen in ihrer vollen Pracht sollen sie die Menschen verzaubern. Ein Wimpernschlag und schon soll es um einen geschehen sein. Das mag auf diese Frau zwar zutreffen, denn Clives Herz schlägt verräterisch laut und schnell bei ihrem Anblick. Doch von Flügeln war in den vielen Texten nie die Rede.
Clive freut sich bereits auf seinen Tagebucheintrag. Denn seine Reise hat er bis aufs kleinste Detail schriftlich festzuhalten. Die Einträge werden veröffentlich, sollte der Magisterturm überzeugt von seinen Entdeckungen sein. Eine Gelegenheit, eine persönliche Note zum Thema Sklavenhandel einzuarbeiten und die Gesellschaft zum Nachdenken animieren. Das Gesamtbild dieser jungen Lady versucht er, sich in die Netzhaut zu brennen. Denn bei Gelegenheit mag er ein Bild von ihr zeichnen. Er wüsste nur zu gern mehr über die Flügel und über die Fähigkeiten dieser Hexe. Aber dafür müsste sie sich ihm öffnen.
Dunkel, kalt und eng wird die Dame gefangen gehalten. Clives Lächeln soll aufbauend und voller Freundlichkeit sein, aber die Mundwinkel fallen zu schnell, wenn er sich ihre klägliche Behausung genauer ansieht.
Ob sie seine Sprache versteht? Es soll daran jedoch nicht scheitern. Auch mit Zeichensprache konnte er sich bislang gut verständigen und sogar einige Grundkenntnisse in anderen Sprachen erlernen.
„Guten Tag, werte Dame. Welch schöne Blume Ihr doch in den Händen haltet. Verratet Ihr mir den Namen der Pflanze? Ich befasse mich beruflich mit Heil- und Kräuterkunde, aber dieses Exemplar scheint mir fremd. Ein Mitbringsel aus Eurer Heimat?“
Ihr stummes Starren endet, denn wenn auch nur kurz fällt ihr Blick hinab auf ihren Trostspender. Sie versteht ihn, ohne Zweifel. Aber sie zeigt gesundes Misstrauen. Nicht verwunderlich in ihrer Situation.
„Ihr Duft ist angenehm süßlich und ihre Blütenkelche haben eine schöne Farbe“, fährt Clive fort.
In der Hoffnung, sie taue auf. Aber der Sklavenhändler nähert sich, schlägt brutal gegen den Käfig, sodass die Gitter vibrieren und die arme, gefangene Seele zusammenschrecken lassen.
„Antworte ihm, Mädchen!“, brummt der Grobian.
Clive funkelt den Mann vorwurfsvoll an. „Würdet Ihr bitte die Einschüchterungen unterlassen! Ich denke, die Dame leidet genug. Sie muss mir nicht antworten, wenn sie nicht möchte.“
Verärgert zischt der Sklavenhändler und versetzt damit Linus in Alarmbereitschaft. Der Söldner packt hinab und zieht Clive vom Käfig fern.
„Clive! Sie ist gefährlich!“, ruft Linus erbost, als würde der junge Alchemist vor einer Bestie stehen. „Halt dich von ihr fern! Irgendein reicher Schnösel wird sie kaufen und dann ist sie sein Problem!“
Allein der Gedanke, diese verängstigte Frau wird schon bald als Sklavin schlecht von ihrem Käufer behandelt, zerreißt dem jungen Alchemisten das Herz.
„Wir müssen ihr helfen!“, folgt sein Einspruch, bevor Linus’ Hand sich um seinen Arm schließt, und fort vom Geschehen führt.
Linus hat genug gehört, seine Geduld wurde zu lang auf die Probe gestellt. Seine Ohren sind auf Durchzug. An ihm verschwendet Clive leider seinen Atem.
































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