Kapitel 2

Reue meldet sich. Vielleicht hätte er der vermeintlichen Hexe Trunk und Speise überreichen können, um ihre Zustände zu lindern. Er mag den Sklavenhändler verärgert haben und sein Begleiter Linus kennt seinen Tatendrang zu gut, um zu wissen, besser wachsam zu bleiben. Denn allein ein Schulterblick zurück und nur ein flüchtiger Augenkontakt mit der Sklavin entgeht dem Söldner nicht. Im strengen Tonfall ermahnt Linus ihn an die Folgen, doch zu sehr beschäftigt der Fund den Alchemisten.

„Dürfen Hexen als Sklaven überhaupt verkauft werden?“, spricht die Neugier aus Clive.

„Nein! Der Sklavenhändler macht sich strafbar. Die einzig richtige Entscheidung wäre, dass er sie an den Grafen oder die Soldaten übergibt und für seine Mühe ein Kopfgeld verlangt.“

Ein Blick zu den schmierigen Sklavenhändlern lässt die Wut in Clive Bauch aufschäumen.

 

„Vergesst nicht, warum wir hier sind!“

Ein mieser Zug! Allein der Gedanke an Mondblumen lässt die Finger kribbeln. Bei der Königin der Nacht handelt es sich um eine großblumige, wohlriechende Attraktion in elfenbeinweißer Farbe. An lauen Sommerabenden wetteifern die Blüten im Punkto Leuchtkraft mit dem Mond, denn nur dann öffnen sich die Kelche. Die Pracht dieser schönen Lichterblume beweist sich nicht nur als ein Schmaus für die Augen, sondern hat eine vielseitige Anwendung in der Alchemie. Unbehandelt erweist sich die Rankenpflanze als giftig, aber aus ihren Blättern lässt sich ein Extrakt gewinnen, das gegen eine ganze Reihe an Entzündungen und leichte Vergiftungen wirkt. Auch junge Blätter können gegen Rückschmerzen helfen. Die Salbe hilft bei Juckreiz  und als Aufguss sorgt diese für einen Trance-Zustand. Eine umstrittene Methode unter den Alchemisten. Aber ein beliebtes Mittel für spirituelle Rituale. Bei der Rauschdroge spielen die Alkaloide eine große Rolle für Halluzinationen. Dabei handelt es sich um Schutzstoffe der Pflanze, die vor Fressfeinden schützen. Beliebt unter den Damen zeigt sich das gewonnene Parfümöl der herrlich duftenden Blüten.

 

Mühsam atmet Clive gegen den Widerstand in seiner Brust an. Nur ungern lässt er die Gefangene zurück und folgt seinem Begleiter durch die schmalen Gassen der Stadt. Vorbei an den farbenfrohen Fachwerkhäusern und Blumenbeeten, die den Dreck und Gestank auf den Straßen vergessen lassen. Clive versucht dabei auszublenden, wie schwindelerregend hoch die Gebäude wohl sein mögen. Auf dem Weg zum Marktplatz laufen die beiden an Bettlern und Straßenkünstlern vorbei und weichen vorbeihuschenden Ratten aus.



 

Schnell lässt sich ein Händler finden, der die Mondblumen in einer hervorragenden Qualität zum Verkauf anbietet. Hier spielen die richtige Lagerung und der richtige Schnitt eine wichtige Rolle. Neben der Mondblume findet Clive noch andere wichtige Kräuter und Blumen. Da wäre der Beifuß, ein Kraut, das bei Magenproblemen oder Schlafstörungen hilft. Die Blätterspitzen werden mit kochendem Wasser aufgegossen und als Tee verzerrt. Auch das Schöllkraut befindet sich im Sortiment des Händlers. Eine Heilpflanze mit einer beruhigenden Wirkung auf Galle und Leber. Die sonnengelben Blüten sehen zwar schön aus, dennoch interessiert sich Clive mehr für den Pflanzensaft und die Blätter.  Aus den orangen und gelben Ringelblumen stellt der junge Alchemist Salben her, die zur Wundheilung beitragen.

 

Um den Frischegrad zu überprüfen spielt nicht nur das äußere Erscheinungsbild eine Rolle, sondern auch die Erntezeit. Es macht einen großen Unterschied, zu welcher Tageszeit die Pflanze gepflückt wird. Gerade bei den Ringelblumen sollten diese in aller Frühe geerntet werden.

 

Die Alchemie beherbergt viele Bereiche. Die einen Studenten konzentrieren sich auf schöne Edelsteine, andere glauben mit der Hilfe der Wissenschaft künstliche Menschen zu erschaffen. Während Clive sich mehr auf die Heilkunst konzentriert. Statt zu vergiften und Schaden anzurichten, möchte er seinen Mitmenschen helfen. So viele Krankheiten plagen das Reich Dandral und nur wenige Leute befassen sich mit der Wunder der Natur. Die Sterberate liegt beunruhigend hoch bei Krankheitsverläufen, dabei können Alchemisten nicht nur Linderung bringen, sondern das Übel an der Wurzel packen und beseitigen.

 

Während der Händler die Ware verpackt, belächeln seine zwei Kinder die rote Schleife, auch Fliege genannt, an Clives Hemdkragen.

„Die ist ja hübsch“, findet seine Tochter.

Ein aufmerksames Kind. Geschätzt auf acht oder neun Jahre. Mit langem Haar, geflochten zu strengen Zöpfen, wie üblich für diese Region.

„Ne, Männer sollten doch keine Schleifen tragen“, widerspricht der große Bruder.

Ein sichtlich gelangweilter Bursche mit wilder Mähne und Holzschnittwerkzeug in den Händen gegen den öden Alltag am Stand. Clive kann ihm seine Laune nicht verdenken, denn auch mag lieber in Bewegung bleiben, als den ganzen Tag zu stehen. Die Kundschaft für Kräuter und Blumen scheint mager zu sein. Kaum ein Passant würdigt den Verkaufsstand eines Blickes. Auch die Kleidung der Familie zeigt Spuren von Armut. Geflickte Kleidung und hagere Körper.



Seine junge Schwester lässt sich jedoch nicht von der Meinung ihres Bruders beeinflussen und hält ihm ihren Standpunkt noch mal vor Augen. „Ich finde die Schleife aber schön.“

 

Der Junge presst den Atem zwischen die Zähne und legt das Werkzeug fürs Holzschnitzen nieder. Seine Augen blicken nun auf und betrachten den Kunden intensiver.

„Was tragt Ihr da auf der Nase?“

„Verzeiht die Neugier der beiden, den Kindern ist sicherlich etwas langweilig“, entschuldigt sich der Vater höflich.

Clive lächelt erheitert. Kinder sollen schließlich ruhig neugierig sein. „Seid unbesorgt. Beide beweisen Mut und scheinen nicht auf den Mund gefallen zu sein. Nur wer Fragen stellt erhält Antworten. Und Eure Tochter macht sich ihr eigenes Bild, ohne sich von anderen beeinflussen zu lassen. Das sind gute Eigenschaften. Ihr könnt stolz auf Eure Kinder sein.“

Unerwartetes Lob, das den netten Herrn die Sprache verschlägt. Ganz langsam hellen die Gesichtszüge auf und sogar ein auffälliges Glänzen in den Augen verkündet seine Dankbarkeit. Der Verkäufer neigt kurz den Kopf, mit einer Hand auf seinem Herzen. Seine Art, sich zu bedanken.

 

Die Neugier des Jungen soll belohnt werden, daher nimmt Clive seine Brille ab. Ein Gegenstand, der ihn seit Kindertagen begleitet und den er kaum länger wahrnimmt.

„Ohne die hier sehe ich nicht so gut. Habt ihr schon mal eine Brille gesehen?“

Kaum liegt das Gestell mit den zwei Gläsern in seiner Hand statt auf seiner Nase, sehen seine Augen alles, was sich in der Ferne abspiegelt, nur verschwommen und undeutlich.

„Nein, noch nicht, Sir“, antwortet der Junge ihm mit großen Augen. Er tritt näher heran und beugt sich sogar neugierig vor.

„Die Leute hier sind für so etwas viel zu arm. Wir haben wenig Adel“, meldet sich der Vater.

„Aber der Buchhändler sieht auch sehr schlecht“, fällt dem Mädchen ein.

Kaum spricht sie zu Ende, leuchten Clives moosgrüne Augen. Linus seufzt bereits, denn er kennt Clives Liebe gegenüber Büchern.

Linus spricht seine Vermutung laut aus: „Ja, schon verstanden. Wir machen noch einen Zwischenstopp beim Buchhändler.“

Freudig nickt Clive und setzt die Brille zurück auf seine Nase.



 

Eine Chance, die das Mädchen wittert. Gewitzt klimpert sie mit den Wimpern und legt die Arme auf den Rücken.

„Vater“, säuselt sie übertrieben, „wir könnten den werten Kunden doch zeigen, wo sich der Buchladen befindet.“

Ihre Strategie scheint aufzugehen, denn mit einem lauten Seufzen und einem vernarrten Blick auf seiner Tochter wendet sich der Verkäufer von ihr ab und schwenkt den Kopf zu seiner Kundschaft rüber. Nur kurz betrachtet er die beiden Fremden und nickt am Ende stumm. Seine Tochter reißt  freudig die Arme in die Höhe und winkt ihren Bruder heran, als sie die Verkaufstheke umgeht.

„John, begleite deine Schwester. Bringe sie heil zurück, keine weiteren Abstecher. Verstanden?“, trägt der Vater dem Sohn Verantwortung auf und zeigt somit großes Vertrauen in seinen Jungen.

„Verlass dich auf mich“, verspricht der Junge ihm.

 

Clive nimmt die Ware entgegen und folgt den Geschwistern über den Marktplatz. Die beiden sind ganz schön flott unterwegs. Kein Wunder. Auch Clive würde sich an ihrer Stelle freuen, den Laden für einen Moment zu verlassen und sich die Beine vertreten zu können. Dabei nutzt das Mädchen die Gelegenheit und balanciert mutig über ein kleines Mauerstück. Clive beobachtet sie dabei besorgt, denn sie wählt ein doch recht hohes Hindernis und er will sich nicht ausmalen, was bei einem Sturz alles passieren könnte.

 

Linus muss herzlich lachen, als er das besorgte Gesicht von Clive sieht.

„Wird schon nichts passieren“, versichert er dem Alchemisten zuversichtlich.

Aber das beruhigt Clive nur wenig. „Wie kannst du dir da sicher sein?“

Zu Clives Bedauern erhält er keine Antwort, denn dem Auge des Jungen entgeht nichts.

„Woar! Ist das Schwert echt?“, meldet er sich zu Linus Rechten.

„Jap“, antwortet der Schwertkämpfer stolz.

„Bist du ein Soldat?“

„Nein, ein Söldner“, antwortet Linus mit erhobenem Hauptes.

„Bleibt ihr in der Stadt?“ Fragen über Fragen von dem Jungen, während seine Schwester bereits fröhlich vor sich her summt.

„Wir bleiben nicht lange.“ Linus dreht sich mit warnendem Blick zu seinem Gefährten. „Oder, Clive?“

Der Alchemist antwortet mit einem entschuldigen Lächeln, denn er kann für nichts garantieren.



 

Zum Glück platzt der junge Bursche vor Neugier und fragt Linus weiter aus.

„Ist das Schwert schwer?“

Clive atmet erleichtert aus, als das Mädchen sicher auf ihren Beinen landet und das Mauerstück hinter sich lässt.

„Es ist schwerer als es aussieht“, versichert Linus ihrem Bruder.

Der Alchemist lächelt wohlwissend, schließlich kennt er den Meisterschmied hinter diesem Prachtstück. Das Schwert wurde aus einem hervorragenden Stahl erschaffen, es ist belastbar und auf Linus perfekt angepasst. Die Haltung seines Gefährten überzeugt und zeigt die Früchte seines harten Trainings. Gekonnt, wie Clive bereits gesehen hat, schwingt er das Schwert meisterhaft.

 

„Habt ihr schon diese seltsame Sklavin gesehen? Sie hat Flügel?“, spricht das Mädchen das Thema an, was Clive noch immer belastet. Linus würde sich niemals freiwillig mit den Sklavenhändlern anlegen. Besonders dann nicht, wenn ihr Ruf ihnen vorauseilt. Nachtragend und gnadenlos rächen sich andere Sklavenhändler. In dem Gewerbe herrscht nicht nur Konkurrenz, sondern auch eine Art Bruderschaft.

 

„Dank dieser Sklavin kommen Leute von überall her, nur um sie zu sehen. Sie befindet sich schon seit drei Tagen hier“, informiert der Junge die beiden.

Drei Tage im beengten Käfig stellt sich Clive grauenvoll vor. Und doch befindet sie sich und die anderen Sklaven in einem guten Zustand. Clive runzelt dennoch die Stirn. Nach drei Tage hätte die Pflanze in ihren Händen sich dem Verfall hingeben müssen und doch wirkt der Exot wie frisch gepflückt. Ein kleines Mysterium, das Clive unbedingt lösen vermag.

„Sie ist hübsch“, spricht das Mädchen die Tatsache aus.

Neben der Schönheit der Dame gibt es aber noch viele andere Details, die Clives Neugier geweckt haben. Die Körperbemalung, die Herkunft, ihr starker Charakter und vor allem der Exot in ihren Händen. Was würde der Alchemist nicht alles geben, um mehr über die mysteriöse Pflanze, aber auch über die Fremde, in Erfahrung zu bringen.

 

In nur wenigen Minuten erreichen sie den Buchhändler und es kommt zum Abschied. Als Lohn für die Begleitung überreicht Clive ihnen eine Rarität von einem Freund. Klebrige Süßigkeiten, die besonders beim Adel beliebt sind. Bonbons mit Kirschgeschmack. Die Augen der beiden Kinder leuchten. Bewusst überreicht er den beiden nicht zu viel. Aus Sorge vor einem Raub. Aber allein die glücklichen Gesichter zu sehen, wie sie der Köstlichkeit verfallen, erheitert Clives Laune. Er muss unbedingt seinem Kindheitsfreund davon berichten und Nachschub organisieren, um auch anderen eine Freude machen zu können. Zufrieden und glücklich kehren die beiden Kinder zurück zum Stand des  Vaters, während Clive mit Vorfreude in einen kleinen Laden eintritt.



 

Trotz hohem Alter und gebrechlicher Statur führt der Buchhändler mit Stolz den Familienbetrieb. Aus wenig Raum wird das bestmögliche herausgeholt. Hohe Regale sorgen für ein breites Sortiment. Für gewöhnlich verirrt sich Clive spätestens zwischen den engen Gängen in eine Welt voller Schriften und Pergament. Unbekanntes Wissen, Gedichte, Familienrezepte, Ratgeber, historische Momente und abenteuerliche Geschichten. Stunden könnte Clive mit der Nase in Büchern verbringen. Aber am heutigen Tag läuft alles anders, denn die Begegnung mit der Sklavin beschäftigt ihn noch immer und raubt ihm die Konzentration.

 

Nach langer Suche findet Clive ein nützliches Rezeptbuch für Salben und die Herstellung von Medizin. Als er das staubige Buch vor dem Laden nochmals aufschlägt, fasst er jedoch einen Entschluss.

„Linus, finde bitte heraus, wann diese Auktion startet“, fordert er den Söldner entschlossen auf.

„Es geht um diese Sklavin oder?“, ahnt Linus bereits.

Er hört sich alles andere als begeistert an.

„Jawohl“, bestätigt ihm der Alchemist.

„Das ist keine gute Idee, diese Frau sorgt für unnötiges Aufsehen. Sie würde uns auf den Reisen Ärger einhandeln.“

Seine Bedenken haben Gewicht, doch Clive mag das Elend nicht länger ignorieren.

„Mein Entschluss steht!“

Nichts und niemand wird ihn davon abhalten, dieser Frau zu helfen. Wenn möglich auch den anderen Sklaven. Doch ihr Schicksal wäre viel tragischer. Tod durch Flammen. Alles nur, weil ihr eine Gabe in die Wiege gelegt wurde. Eine Macht, die andere fürchten, und aufgrunddessen verurteilen. Ein so junges Leben sollte nicht durch die Furcht anderer auf so grausamer Weise verwelken.

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