Kapitel 10 – Sanfte Töne
Traurigkeit und Angst überspielte Cassandra immer mit einem Lächeln. Für die Außenstehenden wirkte sie unerschütterlich. Kaum einer sah hinter die Fassade. Als aufmerksame Beobachterin wurde Samira immer wieder Zeuge davon, wie in wenigen Momenten der Unachtsamkeit ihre Schwester die Maske abnahm, um sich kurz ihren Gefühlen hinzugeben. Daher überrascht es Samira, ihre Schwester erneut und in Kürze so aufgewühlt zu sehen. Das Leben nach dem Tod verändert Cassy. Sie ist scheu wie ein Reh und presst ihren Körper verängstigt gegen die Wand, als taste sie nach einer unsichtbaren Tür. Mit solchen Momenten hat Samira tatsächlich schon Erfahrungen, denn das Verhalten ist ihr nicht unbekannt. Zuletzt war es die kleine Tochter eines Angestellten, die in absoluter Isolation lebte, bis die Mutter verstarb und der Vater sie mit Absprache mitbrachte. Wie damals auch setzt sich Samira ein Stück weit entfernt auf dem Boden. Auf Augenhöhe.
Noch meidet Cassandra den Blick zu ihr. Sie versteckt ihren hübschen Kopf hinter ihren Händen, als schäme sie sich für den Moment der Schwäche. Daher vermutet Samira, dass es um den Angriff ging. Sicherlich wusste Cassandra nicht, was sie tat. Ein Impuls, weil Jared die Krallen ausgefahren hat und seine Gehör auf Durchzug war. Eine Schreckenserfahrung aus der Vergangenheit und er stopft alle paranormalen Begegnungen in eine Schublade, ohne zu hinterfragen. Das ist falsch! Cassandras Dasein ist nicht mit bösen Absichten verbunden – davon ist Samira überzeugt.
Auffällig sind die kränklichen Blüten, in dessen Kreis Cassandra sitzt. Die Freesien scheinen ihren Gemütszustand zu präsentieren. Ihre Launen. Die Totgeglaubte lässt die Natur aus dem Boden sprießen. Allein der Anblick der hängenden Blütenköpfe vermittelt ein beunruhigendes Bild. Eine Erinnerung aus früheren Jahren schenkt Samira Hoffnung. Es war eine einfache Bemerkung von Cassandra, die bei dem Mahl mit der Familie belächelt wurde. Sogar von Samira. Pflanzen sollen Gefühle hegen. Mit Komplimenten und Musik sollen sie prächtiger gedeihen. Ein absurder Gedanke, aber woran Cassandra immer fest hielt. Daher summte sie bei ihrer Gartenarbeit. Eine einfache, aber fröhliche Melodie, die sich in Samiras Kopf einbrannte. Dessen Ohrwurm sie ab und zu plagte und sie sich sogar beim Nachahmen erwischte.
Die ersten Strophen sind gesummt, da hebt Cassandra überrascht den Kopf. Sie scheint die Melodie zu erkennen und die Furcht in ihrem Gesicht nimmt stetig ab, bis sich ihre Gesichtszüge ganz entspannen. Genussvoll schließt sie die Augen und stimmt sogar wenige Augenblicke später mit in das Lied ein. Samira beobachtet interessiert, wie der Schmutz von den Freesien abfällt und sich die leuchtenden Köpfe erheben. In nur wenigen Minuten haben sich die Pflanzen nicht nur erholt, sondern optisch übertroffen. Sie zeigen sich in voller Blüte und beginnen sogar zu leuchten. So hell wie Cassandras Lächeln, das sämtliche Einsamkeit in Samiras Herzen verbannt.
Kaum endet die letzte Strophe, folgt ein Überfall. Ehe sich Samira versieht, stürzt sich Cassandra auf sie. Eine herzliche Umarmung ohne Entkommen. So wie in alten Zeiten. An der Seite ihrer Schwester vergeht die Zeit wie im Flug. Nur die steifen Gelenke und der knurrende Magen verkünden, dass sich schon bald die Königsfamilie an der großen Tafel versammelt.
Das Hungergefühl während der Aufbruchstimmung wächst rasant und doch ändert Samira ihre Meinung, als sie Jared zu ernsten Ausdruck im Flur wahrnimmt. Ihr Leibwächter blickt, als wartet er nur darauf, dass sich die Schwestern trennen. Denn Cassandra weigert sich das Zimmer zu verlassen. Die eigene Schwester zurückzulassen und eventuell an einer Konfrontation mit Jared zu verlieren, nimmt Samira nicht in Kauf. Ein Schlemmermaul wie sie verzichtet zwar ungern auf die Meisterwerke ihrer Köche, aber zu wichtig ist ihr das Wohl ihrer Schwester. Savas sichtlich verwirrter Ausdruck ist Belohnung genug für eine Fastennacht. Jared hingegen teilt seinen Frust offen mit. Es mag nur ein genervtes Seufzen sein und doch verrät es seinen Groll. Unruhig wie ein eingesperrtes Tier bewegt er sich im Hintergrund. Versteckt im Schatten der großen Säulen. Ihm Beachtung zu schenken würde nur verzweifelte Hoffnung wecken, daher begibt sich Samira eilig zurück ins Zimmer.
Ablenkung muss her, bevor der knurrende Magen sie von innen auffrisst. Schnell ist ein Kartendeck gefunden und ihre Schwester für mehr als eine Partie überredet. Nach der dritten Runde zeigt sich die rasant ausbreitende Müdigkeit. Cassandras Bewegungen werden schwerfällig und Fehler durch mangelnde Konzentration schleichen sich ein. Ihre Erscheinung verliert an Glanz und wird immer transparenter, woraufhin Samira die Spielrunde frühzeitig abbricht und ihre Schwester ins Bett schickt. Das Tagebuch ist schnell aufgeschlagen und Samira verliert sich in Arbeit.
Der Tumult in den Fluren bekommt wenig Beachtung, bis sie Ava brüllen hört. Im nächsten Moment platzen die Türen auf. Der Schrecken ist groß, sodass die Hand abrutscht und zwischen den Zeilen kritzelt. Die Tinte verwischt und nur kurz betrachtet Samira den Schaden. Ihre Schriften blieben zum Glück unversehrt, nur die letzten Buchstaben lassen sich schwerfällig entziffern. Und doch kann Samira aufatmen. Zögerlich erhebt sie sich und lugt um die Ecke, um Riley ausfindig zu machen. Aber der Paladin schenkt ihr wenig Beachtung und schreitet zu den offenen Fenstern. Ava betritt ebenfalls das Zimmer und streckt ihre Hand nach ihm aus, aber Riley fängt diese rechtzeitig ab und schiebt diese kompromisslos fort. Entschlossen tritt er an einen Vorhang, wo Samira eine Bewegung ausmacht. Der Vorhang hat sich verdächtig gebeult, zu stark und unförmig für den Wind. Eilig packt der Paladin zu und zerrt einen Eindringling hervor. Dieser setzt sich zu Wehr, seine Faust soll Riley am Magen treffen. Mit dem Widerstand der Rüstung scheint der Angreifer nicht zu rechnen und jault. Eine vertraute Stimme.
Die Sonne verabschiedet sich bereits, sodass die Dunkelheit dem Einbrecher einen Vorteil verschafft. Daher entzündet Samira gekonnt eine Kerze und begibt sich mit der Lichtquelle näher an den Paladin.
„Bleibt in Sicherheit, Eure Hoheit“, fordert Riley streng.
Aber Samira ist ein Dickschädel und überhört seine Worte gekonnt, denn das Gesicht des Einbrechers kann sie mit Gewissheit identifizieren.
„Jared!“, brummt sie erbost, „Dein Ernst? Was hattest du vor?“
Ihr Beschützer schweigt. Er spielt die beleidigte Leberwurst. So zu versagen kommt eigentlich nie für ihn Frage. Er bewegt sich lautlos und Samira hätte ihn sicherlich selbst dann nicht bemerkt, selbst, wenn sie im gleichen Raum verweilt. Seinem Blick folgend zeigt, dass er ihre schlafende Schwester fixiert. Zorn keimt in Samira auf. Im Nu befindet sie sich bei ihm und sticht ihm erbost in die Seite. Jared keucht und wendet sich endlich von Cassandra ab. Er betrachtet Samira erzürnt, während Riley hilfesuchend zu Ava blickt. Sicherlich ein Fehler, denn ihr ansteigender Zorn scheint den Paladin sämtliche Entschlossenheit zu nehmen. Sein Griff löst sich und Jared geht auf Abstand, aber Samira folgt ihm. Dabei drückt sie Riley den Kerzenhalter in die Hände und schnappt sich ein Kissen, um damit auf ihren dummen Beschützer einzuschlagen. Sie schimpft unterbrochen mit ihm und zuerst verteidigt sich Jared nur. Er fängt das Kissen ab, versucht es, ihr sogar zu entwenden, scheitert jedoch zu Beginn.
Kaum bekommt Jared das Kissen in die Finger, fordert er: „Jetzt warte doch mal, Samira. Ich bin doch nur zu deinem Schutz hier!“
Die Prinzessin schnauft und schüttelt enttäuscht ihren Kopf.
„Du irrst dich. Du glaubst nur das, was du siehst, statt es zu hinterfragen!“
„Jared, erklär dich!“ Avas Geduldsfaden reißt. „Auf der Stelle!“
„Sieh doch selbst oder bist du blind, Ava?“
Jared zeigt auf Cassandra, die sich gähnend erhebt. Ein jeder blickt herüber, aber Ava und auch Riley wirken ratlos.
„Was soll da sein?“ Ava tritt an Cassandra heran, wühlt im Bett. Greift dabei durch die geisterhafte Gestalt und wendet sich fragend ab. „Da ist nichts du, Idiot! Hast du zu tief ins Glas geschaut?“
Ein Griff in einen angehängten Beutel und Riley befindet sich in Alarmbereitschaft. Jared kommt ihm zuvor und bewirft Cassandra mit irgendeinem Zeug, das Wirkung zeigt. Kaum kommt es mit ihr in Kontakt, beginnt Cassandra zu dampfen und qualvoll zu schreien. Die Atmosphäre erschüttert erneut und ein jeder ist in Alarmbereitschaft. Samira stürmt los. Ziel ist ihre Schwester, dabei gerät sie leider in Avas Fänge.
„Schnell raus hier, Prinzessin! Die Erde bebt erneut! Eure Sicherheit geht vor!“
Nicht mit Samira. Geschickt schlängelt sie sich aus dem Griff ihrer Freundin, um ein leeres Bett vorzufinden. Cassandra ist fort. Erbost dreht sich Samira um. Jared befindet sich bereits in Gewahrsam. Er ist an die Wand genagelt und Riley ist nicht bereit, ihn freizugeben. Samiras tadelnden Blick scheint Jared kaum länger zu ertragen und wendet sein Gesicht von ihr ab. Im nächsten Augenblick erwischt es Samira. Denn Ava zerrt die Prinzessin gegen ihren Willen hinaus. Raus aus Cassandras Raum und fort von den königlichen Gemächern.































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