Kapitel 17

Gewappnet mit seinem Koffer vor herumfliegenden Krümeln versucht sich Clive darauf zu konzentrieren, was Rebecca ihm gerade versucht zu vermitteln. Der Langfinger hat wahrlich schlechte Manieren, denn sie spricht, während sie kaut. Er kann den Prozess, den das Stück Brot in ihrem Mund durchlebt, genau beobachten. Sämtliches Hungergefühl ist ihm bereits entgangen. Anscheinend kam es zu einer Aussprache. Sina hatte die Möglichkeit, ihr Verhalten zu erklären, um am Ende eine Standpauke zu erteilen. Laut Rebecca war sie gnadenlos, was auch immer das heißen mag. Rebecca lässt sich schwer deuten. Sie lächelt, spricht mit einer Maske und lächelt stolz, als habe sie alles im Griff. Doch, was entspricht der Wahrheit und was wäre gespielt? Rebeccas Einzelheiten kann er nur schwammig wiedergeben, denn dieses barbarische Essverhalten lenkt ihn einfach zu sehr ab. Rebeccas Moral blieb ihm jedoch in seinem Kopf hängen. Freunde sind rar und sollten geschätzt werden. Es schickt sich nicht diese zu hintergehen und auf deren Gefühlen herumtrampelt. Welch noble Einstellung von Rebecca und auch die Wortwahl klingt mehr danach, als wurde ihr diese Sicht eingetrichtert. Der stolze Blick seitens Cuno spricht dafür, dass er diesen Grundpfeiler setzte. Noch mag Cuno zu wenig über das Verhältnis zwischen ihr und dem Paladin wissen. Fakt ist, dass Cuno still und leise über Rebecca wacht. Er sieht Potenzial in ihr wie kein anderer und bemüht sich, ihr den rechten Weg zu weisen. Eine Freundschaft von unschätzbarem Wert. Die beiden mögen sich gern gegenseitig aufziehen und doch halten beide zusammen. Sie decken sich gegenseitig den Rücken und trotzen jeder Gefahr.

 

Rebecca hat zugleich wirklich ein Talent alles zu dramatisieren. Sie stellt Sina als wahren Bösewicht dar. Was er auch zu Sinas Verteidigung sagt, Rebecca kontert immer wieder mit schlagfertigen Argumenten und versucht, ihm deutlich zu machen, dass er der Leidtragende sei. Sie muss Sina solch ein schlechtes Gewissen eingeredet haben, dass sie die Fee davon überzeugt bekommen hat, für eine Weile ihre Weggefährtin zu spielen. Ein Detail, was Clive stutzig macht. Denn auch wenn Rebeccas Geschichte vielversprechend klingt, stellt er sich die Frage, wo die Fee überhaupt steckt. Laut Rebecca sei die Kutsche zu langsam und Sina würde auf dem Rücken eines Bären reiten. Eine bizarre Vorstellung und nun muss Clive an der Glaubwürdigkeit der Geschichte zweifeln. Die beiden Mädels haben einen Treffpunkt abseits des Dorfes ausgemacht. So bliebe Sina genügend Zeit, um Vorbereitungen zu treffen. Was sie genau mit Vorbereitungen meint, möchte Rebecca zwar nicht sagen, schließlich sollen sich die Jungs überraschen lassen.



 

Die Situation zu akzeptieren und sich in Geduld zu üben hält Clive vorerst als beste Option. Außerdem bietet sich nun die Gelegenheit, Rebeccas Beweggründe für ihr Reisebegleitung in Erfahrung zu bringen. Ihre Laune hellt kurz auf. Als habe sie sehnsüchtig auf diese Frage gewartet. Doch ein Blick zu Cuno und das Lächeln schwindet. Als Rebecca von einer Großstadt berichtet, wo eine Gilde aus Meisterdieben ihr Unwesen treibt, wirkt es auf Clive, als verschleiere sie die Wahrheit. Ihr Kindheitstraum, Teil dieser Gilde zu sein, mag nicht frei erfunden sein, und doch wirkt Clive nicht ganz überzeugt. Die gesamte Erzählung von Sinas Begegnung hielt sie Augenkontakt, nun aber zeichnet sich Kummer in ihrem Gesicht ab und aus dem Augenwinkel behält sie Cuno ständig im Auge. Als dürfte ihr Kindheitsfreund nicht die Wahrheit kennen. Cunos Gesichtsausdruck zu dem Kindheitstraum zeigt dem Alchemisten, wie viel der Paladin wirklich davon hält und doch schweigt er. Ein verdächtiges Verhalten, was beide an den Tag legen. Dennoch hält Clive es für angemessen, erst zu beobachten und auf die richtige Gelegenheit zu warten. Rebecca jetzt mit seinen Zweifel zu konfrontieren könnte sie verärgern und in die Flucht schlagen. Und für ihre Dienste will sich Clive wenigstens erkenntlich zeigen.

 

Kaum endet ihre Erzählung, klettert Clive zum Kutscher, während sich Rebecca weiter den Bauch vollschlägt.

„Was hältst du von der Geschichte?“, spricht er den Paladin leise an.

Cuno bevorzugt das Schweigen, sein Blick starrt in die Leere.

„Ich kann euch selbst von dort aus hören und es kränkt mich, dass du mich anzweifelst, Clive!“, brummt Rebecca aus dem Hintergrund.

„Kannst du es ihm verübeln? Natürlich ist man nach solch einer Geschichte misstrauisch. Reitet Sina wirklich auf einen Bär oder ist das nur ein Hirngespinst in deinem Kopf, Rebecca?“

Clive beruhigt es, dass er diesen Punkt nicht als einziger anzweifelt.

 

Ein Blick zurück und Rebeccas finsterer Blick erheitert die beiden.

„Ich lüge nicht, sie reitet wirklich auf einen Bär!“

„Natürlich, wie konnten wir dich nur anzweifeln“, kommt Cuno ihr sarkastisch.

Daraufhin bewirft sie ihn mit einem Apfel, der den Paladin am Hinterkopf trifft. Bevor dieser verloren geht, fängt Clive diesen.



„Hast du mich gerade mit Lebensmitteln beworfen?“

Zornig blickt Cuno zurück, Rebecca erhebt sich und entwendet den angebissenen Apfel. Schließlich beißt sie davon ab und quetscht sich zwischen die zwei Jungs, sodass sie Cuno auf die Pelle rücken kann.

„Du hast es doch selbst gesehen, Sina vollbringt Wunder!“

„Das nennt man auch Hexerei!“

„Hast du Tomaten auf den Augen oder was? Das übersteigt sämtliche Hexerei! Stell dir mal vor, Sina gerät in die falschen Hände. Sie könnte zu einer Bedrohung werden, mit ihr im Schlepptau wird der Graf und all die anderen Städte und Dörfer einfach überrannt. Besser wir sorgen dafür, dass sie dieses Land verlässt…“

Cunos Augen werden schmal und er ist so kurz davor, sich dazu äußern. Es fehlt nicht viel, das sieht Clive ihm an.

„…Jetzt schau nicht so finster. Würde sie Clive nicht so viel bedeuten, hätte ich sie schon längst niedergestochen. Aber Sina ist nicht dumm, ihr könnte die Welt zu Füßen liegen. Je nachdem, was ihr wahres Gesicht, könnte das schlecht für uns alle ausgehen.“

 

„Als würde dich das interessieren, du bist ja sofort weg, wenn du Beute witterst!“, knallt Cuno ihr solch einen Satz an den Kopf.

„Hörst du mir eigentlich zu, Dickschädel?“, wird Rebecca laut.

„Sina kann Wunder vollbringen, wenn sie ihre Macht richtig einsetzt, dann werden die Leute nicht mehr hungern“, wirft Clive ein.

„Sollte herauskommen, wer da hinter steckt, dann werden sie viele Großmächte begehren. Wenn Sina erst mal gejagt wird, wie wird sie mit dieser Angst umgehen? Sie könnte sich auf einen Schlag verändern und zur gefährlichsten Frau weit und breit werden“, spricht Rebecca ihre Sorge aus.

„Nein, nicht Sina“, widerspricht Clive.

„Du gutgläubiger Narr“, flötet der Langfinger.

„Wenigstens sieht Clive noch das Gute in den Menschen, Rebecca“, verteidigt Cuno seinen Wegbegleiter.

Sie zuckt mit den Schultern.

Als sie der Vogeldame Mina ein kleines, abgebissenes Stück Apfel hinhält, rät Clive davon ab: „Nicht, sie könnte daran ersticken. Das ist zu groß für den Vogel.“

Doch Rebecca belächelt seine Sorgen.

„An diesen Krümel soll sie ersticken?“

„Ja.“

„Du scherzt mit mir.“

„Nein, nimm lieber eine kleine Beere oder Körner.“



 

„Die Himbeerpflanze steht da hinten“, meldet sich Cuno schnaubend. „Unglaublich, dass ich die auch noch mitgenommen habe.“

„Oh, Himbeeren“, freut sich Rebecca.

Die beiden Männer sehen sich kurz an, während sie sich zurück in die Kutsche begibt.

„Ja, Rebecca war schon immer ein Vielfraß“, versichert der Paladin dem Alchemisten.

Nach einer kurzen Pause fügt er noch hinzu: „Ich entschuldige mich für ihre Manieren.“

„Schon gut“, äußert sich Clive mitfühlend dazu.

Die beiden verhalten sich nicht nur wie Freunde, sondern auch wie Geschwister. Sie mögen sich ständig streiten, aber der Zusammenhalt wirkt fast schon familiär. Clive ist sich so sicher, dass Cuno nur ungern von Rebecca getrennt sein möchte. Womit Rebeccas Entscheidung, ihm entgegen kommt. Alles reine Mutmaßungen, die Clive schriftlich festhalten will. Die Reise wird sicherlich zeigen, wie vertrauenswürdig seine Menschenkenntnis wirklich sein wird.

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