Kapitel 2 – Nächtlicher Besuch

Lautes Atmen lässt Jubin aufschrecken. Der schreckliche Gestank von Verwesung verpestet die Luft. Es stinkt schlimmer als der verrottende Hase auf der Skaterbahn, den er und seine Kumpels vor gut acht Monaten fanden. Der Geruch ist beißend, kaum auszuhalten. Aber viel schlimmer ist das Gefühl, beobachtet zu werden. Jemand sitzt auf der Bettkante und beugt sich zu ihm ans Ohr. Schwere Atemzüge streicheln seinen Nacken und beschwören eine unangenehme Gänsehaut herauf.

 

Zu seinem Pech ist es stockfinster. Aber vielleicht auch besser, denn Jubin ist sich nicht sicher, ob er wissen möchte, wer hinter ihm sitzt. Die Angst lähmt ihm, schnürt ihm die Atemwege zu. Dieses Ding – er mag es nicht als Mensch bezeichnen, denn dafür passierten am Abend zu viele seltsame Sachen. Seine Wachphase will er dem Ding verschweigen, daher übt er sich in Geduld und spielt auf Schlafend. Nur fließt ihm der saure Angstschweiß aus allen Poren.

 

Knarrend öffnet sich die Tür im Hintergrund, woraufhin sich die Person hinter Jubin aufrichtet. Er spürt, wie dieses Ding vom Bett steigt. Es folgen Schritte, leises Gemurmel und Gefluche. Es hört sich ganz nach Lyra an, sodass Jubin seinen Mut sammelt und sich umdreht.

 

Das Mondlicht findet seinen Weg fern vom Bett durch das Fenster ins Innere. Es fällt schräg hinein und offenbart seine Schwester. Lyra ist damit beschäftigt, nicht auf seine Sachen zu treten. Ihr Anblick spendet ihm Kraft und Trost. Er schenkt ihr sogar ein Lächeln. Ein Schmunzeln, das schnell erstarrt. Denn hinter Lyra befindet sich ein länglicher Schatten. Eine dunkle Gestalt, die sich nicht von der Stelle rührt und doch Bedrohlichkeit ausstrahlt. Eine Silhouette, die nicht Lyra gehört und sich keinen Millimeter bewegt. Jubins Puls beschleunigt sich und die Sorge um seine Schwester gewinnt an Größe. Er hofft, seine Augen spielen ihm einen Streich.

 

Lyra erreicht sein Bett, rümpft ihre Nase, bevor sie einen geekelten Laut von sich gibt.

„Ist es also schon so weit? Irgendwo in diesem Saustall verwest schon ein totes Tier“, beschwert sie sich leise und nimmt an seiner Bettkante Platz. „Ich hoffe, keine Ratte. Oh bitte lass es keine Ratte sein.“



Ein Anflug von Panik macht sich in ihrem Gesicht breit. Die kleinen Nager haben Lyra schon immer Angst bereitet.

Jubins Blick löst sich von der dunklen Silhouette. Seine Schwester hat genug Sorgen, er darf kein Drama machen und muss für sie den Starken spielen. Schließlich bildet sich der Mensch bei Dunkelheit schneller Dinge ein. Die Atmosphäre verändert sich und vielleicht ist seine Sorge unbegründet. Was er auch glaubt zu sehen, bewegt sich nicht vom Fleck und stellt hoffentlich keine Bedrohung dar.

 

Die liebliche Gestalt seiner Schwester lässt Jubins Sorgen schnell vergessen. Lyra ist so schnell groß geworden und verbringt nun weniger Zeit mit ihm. Etwas, das er nur schmerzlich akzeptieren muss. Daher ist die Freude über ihren Besuch umso größer.

„Lyra.“ Kaum ist der Name ausgesprochen, blickt sie mit schockgeweiteten Augen zu ihm hinunter. Sie hat anscheinend nicht damit gerechnet, dass ihr Bruder wach ist. „Warum bist du hier?“

Statt ihm darauf zu antworten, konfrontiert sie ihn: „Etwas verwest in deinem Saustall!“

Jubin wünscht sich, dass sie Recht hat und dieser Schatten am anderen Ende seines Zimmers nur Einbildung ist.

„Ich kümmere mich morgen darum“, beschwichtigt er sie.

Lyra nickt zufrieden. „Rutsch mal rüber, Jubin.“

 

„Ein Alptraum, kleine Schwester?“

Kaum rutscht er beiseite, klettert Lyra auch schon zu ihm ins Bett und macht es sich bequem.

Ihre Stimme klingt voller Sorge. Sie wirkt nervös und genauso unruhig wie er. „Ich bilde mir ein, Joleens Stimme zu hören.“

Als wären die seltsamen Ereignisse nicht schon unheimlich genug, folgt nun die nächste beunruhigende Sache. Aus Verzweiflung lächelt Jubin. Seine Schwester braucht ihn, er darf sich die Angst nicht anmerken lassen.

Es folgt ein tiefer Atemzug, bevor er sie mit einer Frage ablenkt: „Du vermisst deine Freundin sehr oder?“

Sein Schachzug war unüberlegt, denn zu lange trauerte Lyra über den Verlust. Bitterliche Tränen, Distanzierung vom Leben und eine riesige Leere gehören noch immer zum Alltag. Die Wahl seiner Worte können einen gewaltigen Rückschlag heraufbeschwören. Eine tiefe Fallgrube, in die er selbst hineintritt, obwohl er mit viel Unterstützung seiner Schwester etwas Linderung brachte. Lyra fängt endlich an, wieder am gewohnten Alltag teilzunehmen. Hoffentlich hält sich der Schaden mit seiner unüberlegten Aktion in Grenzen.



 

Die Stille verheißt nichts Gutes. Lyra ist kurz in sich gekehrt. Ihre Augen werden trüb und ihr Geist wirkt fern. In Momenten wie diesen beginnt sie von der Vergangenheit zu schwelgen. Sie steigert sich so sehr hinein, dass ihre Tränen den Raum überfluten und ihre Stimmung in den Keller fällt. Aus Reflex schnappt sich Jubin ihre Hand und übt leichten Druck aus. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich verdächtig, als sei der nächste Anfall vorprogrammiert. Umso stolzer macht es den großen Bruder, als sie sich im letzten Augenblick fängt und sein Rettungsseil tatsächlich ergreift. Mit dem Willen, voranzuschreiten und nicht zurückzublicken, klettert sie hinauf.

„Sobald ich die Augen schließe, höre ich ihre Stimme. Sie spricht zu mir. Ganz leise. Um zu verstehen, was sie sagt, müsste ich genauer hinhören. Aber ich weiß nicht, ob ich das will.“

Lyra klingt zu seiner Überraschung gefasst.

„Es war ein langer Tag. Du bist hier sicher, mach die Augen zu und ich passe auf dich auf.“

Kaum spricht Jubin zu Ende, legt er seine Arme behutsam um seine Schwester und zieht sie näher an sich. Lyra scheint sich daraufhin zu entspannen.

 

Es vergehen einige ruhige Minuten, als Lyra den Kopf hebt.

„Dein Herz“, beginnt seine Schwester erschrocken. „Es schlägt so schnell. Stimmt etwas nicht?“

Als könne Jubin ihr ehrlich antworten. Die Wahrheit würde sein Schwesterherz verunsichern und ihr sicherlich Angst machen. Also entscheidet er sich für die halbe Wahrheit: „Als sich meine Tür geöffnet hat und ich hörte, wie jemand eintrat, habe ich mit einem Einbrecher gerechnet. Es ist schon Ewigkeiten her, dass du vor Angst in mein Bett gekrochen bist.“

In der Tat war Jubin nicht wohl, als sich die Tür einfach öffnete. Er ging vom Schlimmsten aus.

 

Lyra lächelt beschämt, bevor sie warnend aufblickt. „Wehe du ziehst mich damit auf, Bruder.“

Verwirrt betrachtet er sie. Das Alter spielt für ihn keine Rolle. Seine kleine Schwester ist jederzeit in seinem Reich willkommen. Wenn sie sich fürchtet, wird er da sein und sie trösten.  Aber Lyra umfasst mit hängendem Kopf die Halskette ihrer toten Freundin. Daraus schließt Jubin, dass es um den plötzlichen Besuch mitten in der Nacht geht. Lyra hört die Stimme ihrer toten Freundin und sorgt sich um ihre emotionale Stabilität. Sie zweifelt an ihrer Wahrnehmung und schämt sich sicherlich für ihren Rückfall. Lyra kam mit einem Geständnis, das sie nicht jeden beichten würde. Noch weiß sie nicht, wie er zu dem Ganzen steht. Er ließ sie im Unklaren, dabei hat seine Schwester nichts zu befürchten. Sein Versprechen wenige Stunden vor Joleens Beerdigung, sie auf jegliche Art zu unterstützen und ihr beizustehen, ist nicht leer. Nie würde er darüber spotten, wenn sie sich einbildet Stimmen zu hören.



„Wieso sollte ich? Der schmerzliche Verlust deiner Freundin hinterlässt Spuren bei dir. Ich mache dir keine Vorwürfe. Du weißt doch, dass ich für dich da bin.“

„Danke.“

Lyra drückt ihn glücklich und fühlt sich gleich besser. Ihre Gesichtszüge entspannen sich. In Sicherheit gewogen schließt seine Schwester die Augen und findet Ruhe im Reich der Träume. Anders als bei Jubin. Auch wenn Lyras Anwesenheit eine beruhigende Wirkung auf ihn hat, ist da Etwas in seinem Zimmer.

 

Die Gestalt im Hintergrund ist noch immer nicht verschwunden. Wachsam behält Jubin diese im Auge. Mit gemischten Gefühlen. Die Sorge, die Silhouette könne sich bewegen, will nicht verschwinden. Aber der Gedanke, still und leise beobachtet zu werden, fühlt sich auch nicht besser an. Sollte das Ding ein Produkt seiner Fantasie sein, dann hält er sich nicht länger für eine fähige Stütze in Lyras Leben. Bis vor wenigen Stunden hätte er über Geister und den ganzen Gruselgeschichten gespottet und gelacht. Aber vielleicht zerfrisst sein schlechtes Gewissen ihn Stück für Stück. Die Hoffnung besteht und diese Alternative wäre ihm Tausend Mal lieber.

 

Aber Joleens Tod war ein Unfall!

Sie ist ausgerutscht und gefallen. Dabei wollte Maxim nur mit ihr reden. Einfach Klartext sprechen. Aber Joleen machte dicht und fühlte sich eingeschüchtert von der Überzahl. Denn Maxim war nicht allein und hatte Mika und Jubin im Schlepptau. Sie blockte ab und ergriff die Flucht. Vielleicht hat Mika es ein wenig übertrieben. Er hatte noch nie ein Blatt bei ihr vor den Mund genommen. Die beiden konnten sich noch nie leiden und dann war da Maxims Eifersucht. Joleen empfand für seine große Liebe Gefühle und wurde zur Rivalin. Joleens Leidenschaft war das Klettern. Die Höhenangst kannte sie nicht, aber das wurde ihr zum Verhängnis.

 

Der Unfall ereignete sich kurz nach der Schule. An einen heißen Sommertag. Joleen hatte ihren Hintern auf die Mauer einer Brücke gepflanzt. Nichts Ungewöhnliches bei ihr. Sie balancierte gern, kletterte auf Gebäude und Bäume hoch. Als Parkourläuferin hatte sie kein Hindernis gescheut. Lyra hat zum Glück Höhenangst, so musste sich Jubin nie wirklich Sorgen machen, dass Joleens Abenteuerlust auf sie überspringe. Was Joleen auch sagte, seine Schwester hatte sich nie für den waghalsigen Blödsinn motivieren lassen. Aber ihre Freundin hielt sich für unaufhaltsam, war hochmütig. Aber Hochmut kommt vor dem Fall.



 

Unterhaltungen mit Joleen gestalteten sich schon immer sehr schwierig. Jubin hatte es Lyra zu Liebe versucht, aber das schüchterne Mädchen mied ihn und zeigte die kalte Schulter. Sicherlich gab es einen Grund, warum sich Joleen vom männlichen Geschlecht vollkommen distanzierte. Er hatte nie gefragt und bis vor kurzem nie damit beschäftigt. Vielleicht hätte er an diesem schicksalhaften Tag erkennen sollen, dass eine Konfrontation nichts brachte. Aber Jubin war verbissen und stur. Joleen platzte unter all den Vorwürfen irgendwann der Kragen. Sie ertrug kein weiteres Wort und erhob sich. Statt von der Mauer zu springen, entschied sie sich dafür, dem Mauerstück zu folgen. Eine ruckartige Bewegung und sie geriet ins Taumeln. Jubin sah das Unglück kommen. Kaum verlor sie das Gleichgewicht, eilte er ihr zu Hilfe. Die Hoffnung auf Rettung war groß. Lyra konnte er schließlich auch immer beschützen. Aber diesmal griff er ins Leere.

 

Joleens schockgeweitete Augen und der markerschütternde Schrei verfolgen Jubin noch heute. Alles ging schnell. Joleen war wenige Sekunden nach dem Aufprall tot. Ihr Körper stürzte auf den glühenden Asphalt einer befahrenen Straße und wurde von einem ahnungslosen Autofahrer erfasst. Auch wenn es sich hier um einen Unfall und Joleens Eigenverschulden handelt, fühlt sich Jubin ebenfalls schuldig. Vielleicht hätte er bei seinen beiden Freunden mehr durchgreifen sollen, denn es war Maxim, der Joleen sprechen wollte und Mika, dieser Idiot, bestand darauf, dabei zu sein. Eigentlich ging Jubin doch nur mit, um einzugreifen, wenn es eskalieren sollte. Auch wenn er Joleens Gefühle zu seiner Schwester nie tolerierte, konnte er die Aktion von Anfang nicht gutheißen.

 

Eins steht für ihn fest: Jubin sollte rein mit seinem Gewissen werden. Also nimmt er sich vor, Joleens Grab am nächsten Morgen aufsuchen. In der Hoffnung, der Spuk endet.

Kommentare