Mirani-Prolog

Die Nacht lag still über den Landen, als auf einer kleinen Insel mitten im Meer ein helles Leuchten erschien.
Acht große Steine, die einen Kreis bildeten, erstrahlten, als wären sie der Mond selbst.
Vor fünf von ihnen hatten sich Männer und Frauen in edlen Roben versammelt. Sie thronten auf ihren Stühlen, als wären sie die Könige der Welt. Was nicht ganz falsch war.
Jeder von ihnen herrschte über sein Gebiet wie ein König. Sie waren die mächtigsten Oberhäupter der hier lebenden Werwolfclans.
Zahira Amqar, die stählerne Kriegerin, die über die glühende Dämmerwüste von Th’sharik herrschte.
Maeve Nebelweiss, die sanftmütige Ahnin der nebeligen Aethelhain-Inseln.
Kanya Blattseele, die kluge Mutter des tropischen Smaragdreiches Irawyn.
Alaric Donnerfell, der gerechte Verteidiger der schroffen Graustein-Ketten.
Und Eirik Frostklaue, der stoische Schild der eisigen Nordhauch-Tundra.
Einmal alle zehn Jahre rief die Mondkonklave sie zusammen. Es wurde beraten, diskutiert und auch oft gestritten.
Nach außen hin wirkte vieles unter ihnen harmonisch, doch das war nur Schein.
Jedes Reich hatte mit seinen eigenen Problemen zu kämpfen und konnte nicht auf die Kräfte eines anderen bauen, und doch sprach Zahira heute genau aus diesem Grund.
Sie erhob sich von ihrem steinernen Thron und trat auf den unscheinbaren Stein, der den Mittelpunkt ihres Versammlungsplatzes bot zu.
Sanft legte sie ihre Hand auf diesen und schloss ihre goldenen Augen. Die Tätowierungen, die über ihre schwarze Haut wanderten, nahmen das Licht des Vollmondes auf und schimmerten auf ihrer Haut, während die langen, goldenen Zöpfe das Leuchten nur noch unterstrichen.
»Ich trete heute mit einer wichtigen Sache an Euch heran«, setzte sie an, während der Stein unter ihrer Hand aufleuchtete. »Mit der Bitte um Hilfe, da ich befürchte, diese Angelegenheit betrifft uns alle.«
Ein leises Murmeln erklang und Eirik hob eine seiner schneeweißen Augenbrauen. Seine große Hand lag an der Axt, die er immer mit sich trug, die andere fuhr über das Fell seines Umhangs, obwohl die hiesigen Temperaturen einen solchen gar nicht nötig machten. Es war warm und der Wind, der vom Meer kam, sorgte für eine angenehme Abkühlung. »Ich bin gespannt, was du zu sagen hast«, brummte er, versteckte jedoch sein Augenrollen nicht. Ihre Probleme waren ihm gleichgültig.
Als Herrscher über die eisige Nordhauch-Tundra mochte er seine Nachbarn nicht unbedingt. Er verstand nicht, wie es möglich war, dass ein so heißes Gebiet wie die Dämmerwüste neben seinem liegen konnte. Das Problem war, dass dadurch Gebiete entstanden, die überaus fruchtbar sein konnten. Diese Gebiete waren stets umkämpft und oft ein Streitpunkt zwischen den Nachbarn. Darum ging er davon aus, dass sie genau dieses Thema ansprechen würde. Ein Thema, das die anderen eigentlich bereits leid waren.
»Sprich«, erklang die sanfte, fast hauchende Stimme von Maeve, deren silberne Haare den dunklen Eulenfedermantel umspielten, als würde eine unsichtbare Brise durch sie fahren. Ihre Pupillen, die Nebelwirbeln glichen, richteten sich auffordernd auf Zahira, während Eirik einen schnellen, fast unscheinbaren Blick zu Maeve warf und sich ein klein wenig aufsetzte. Wenn sie Interesse hatte, sollte er zuhören.
Zahira und Maeve verband nicht unbedingt eine Freundschaft, doch Maeve war zu alt, um sich über derlei Dinge Gedanken zu machen. Sie lebte schon so viele Jahre und hatte zu viel gesehen. Die kleinen Kriege zwischen den aktuellen Herrschern interessierten sie kaum. Trotzdem ging sie ihren Aufgaben nach, solange die Nebelwälder sie brauchten.
Zahira war sich bewusst, dass viel von dieser Anfrage abhing. Genau genommen stand das Leben ihres Clans auf dem Spiel, doch das wäre eine Blöße, die sie nicht geben wollte. Sie musste es also geschickt anstellen. Zahira senkte den Blick.
Eine unerwartete Geste, die man von der stolzen Kriegerin nicht gewohnt war. Auch das Schlucken, das deutlich zu hören war, passte nicht zu ihr.
Es sorgte dafür, dass Alaric, der träge in seinem Stuhl lehnte, sich aufrecht hinsetzte. Für ihn waren Worte Mittel zum Zweck, um sich mitzuteilen, doch von den politischen Intrigen der Rudelführer hielt er nicht viel. Ein Gerücht jedoch beunruhigte. Eines, das mit Maeve zusammenhing. Er verehrte die Ahnin der Nebelwälder, weshalb er auf die Gerüchte nicht viel gab, doch nun, wo sie ihr Interesse bekundete, wurde auch er hellhörig.
Auf den Aethelhain-Inseln lebten viele Werwölfe, denen man eine spirituelle Verbindung zu den Ahnen nachsagte. Es konnte durchaus sein, dass sie bereits etwas wusste, was den anderen verborgen blieb.
»Seit einigen Jahren verschwinden bei uns in regelmäßigen Abständen Werwölfe. Wir wissen nicht, wie lange das schon so geht, doch vor etwa fünf Jahren haben wir den ersten von ihnen tot aufgefunden. Wir haben ihn zuerst nicht erkannt, denn er hat sich aus seiner Wolfsgestalt nicht zurückverwandelt«, erklärte sie, wobei der Stein unter ihrer Hand in einem sanften Schein pulsierte. Ein Zeichen dafür, dass sie die Wahrheit sprach.
»Unmöglich«, blaffte Eirik, der ihren Worten nicht glauben wollte, obwohl der Stein es bereits bestätigt hatte. »Jeder weiß, dass wir uns in unsere menschliche Gestalt zurückverwandeln, wenn wir sterben.« Das war ein Naturgesetz, das schon seit Ewigkeiten bestand. Es war egal, wie ein Werwolf starb. Ob in seiner menschlichen oder tierischen Gestalt. Sobald das letzte Leben erlosch, wurde der Körper menschlich. Selbst wenn nicht mehr viel von diesem übrig war. Nicht einmal verbrennen konnte diese Tatsache verhindern.
Dass dieses Naturgesetz außer Kraft gesetzt worden sein sollte, beunruhigte Eirik zutiefst, weshalb er Zahiras Worte einfach nicht glauben konnte.
Alaric ließ seine große Faust mit einem dröhnenden Krachen auf die Armlehne fallen. »Sie sagt die Wahrheit. Der Stein bezeugt es«, donnerte seine Stimme über die kleine Insel.
»Aber wie kann das sein?«, fragte Kanya zögerlich, die bis dahin geschwiegen hatte. Ihre grünen Augen wanderten unruhig von einem zum anderen. Darin schimmerte die Angst, die auch in ihrer Stimme zu hören war. Sie wollte sich nicht ausmalen, was das heißen konnte.
»Das ist die Frage, auf die wir keine Antworten haben«, erwiderte Zahira, die jetzt wieder aufsah und ihre goldenen Augen auf Eirik und dann auf Alaric richtete. »Darum ersuche ich eure Hilfe.«
»Warum sollten wir?«, fragte Eirik, der keine Lust hatte, sich in diese Dinge einzumischen. In seinem Reich gab es genug Probleme, um die er sich kümmern musste.
Sein Blick huschte erneut zu Maeve, die ein nachdenkliches Gesicht machte, bisher aber noch schwieg. Dabei hätte er sich gerade jetzt wenigstens einen Hinweis erhofft, wie ernst die Lage war.
Alaric verschränkte die Arme vor seiner muskulösen Brust und kniff die Lippen zusammen. Seiner Meinung nach ging ihn das gar nichts an.
Als Zahira bemerkte, dass von beiden Männern keine Hilfe kommen würde, wandte sie sich Kanya zu, doch es war Maeve, die zu sprechen begann. »Ihr habt also den Mörder nicht finden können?«, fragte sie, auch wenn es eher eine Feststellung war.
Zahira, die noch immer ihre Hand auf den Stein gelegt hatte, nickte. Das sanfte Schimmern unter ihren Fingern verlöschte nicht. »Und wir haben so gut wie keine Spuren. Langsam wissen wir nicht mehr, was wir tun sollen.«
»Das ist ein Problem eures Landes«, schmetterte Eirik ihre Anfrage endgültig ab. Warum sollte er sich einmischen? Er glaubte nicht, dass ihm Gefahr drohte. Ihm kam das sogar gelegen, denn dann könnte er die neuen Gebiete annektieren, ohne dass sich Zahira darum kümmern würde.
»Ich kenne jemanden, der euch helfen könnte«, erklang Maeves ruhige Stimme. Im Gegensatz zu den anderen sah sie die mögliche Gefahr. Eine, die sie nicht in ihr Gebiet überschwappen lassen wollte. Allerdings hieß das auch, dass sie ein gewisses Opfer bringen musste. Nur konnte sie als Oberhaupt ihres Clans diese Sache nicht einfach ignorieren.


































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