Kapitel 6

 

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»Du bist vollkommen irre, weißt du das?« Kerstin kam aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus.

Iris, die am Steuer saß, grinste zu ihr herüber. »Ich nehme an, die Überraschung ist gelungen?«

»Vollkommen.« Kerstin konnte es immer noch nicht fassen, dass sie in Norwegen waren. Iris hatte ihr zum Geburtstag im Mai einen Gutschein für einen Kurzurlaub geschenkt, ihr aber nicht erzählt, wohin die Fahrt gehen sollte. Sie hatte sie nur gebeten, sich eine bestimmte Woche im Juli freizuhalten. Kerstin hatte Anweisungen bekommen, was einzupacken war. Sie hatte sich gewundert, dass neben Wander- und Badeausrüstung auch Bettzeug aufgeführt war, und angenommen, dass Iris eine Ferienwohnung in der Umgebung gebucht hatte. Die Fahrt ging allerdings schnurstracks nach Norden. Die ganze Zeit bettelte Kerstin um Informationen, doch Iris schmunzelte nur. Als sie die dänische Grenze überfuhren, freute sich Kerstin auf einen Campingurlaub. Aber sie fuhren weiter und weiter, bis sie schließlich in Hirtshals an der Fähre standen. Erst nach der Überfahrt verriet Iris, dass sie ein kleines Ferienhaus in einem Dorf etwa einhundert Kilometer landeinwärts gebucht hatte.

Eine herrliche Landschaft zog an ihren vorbei. Grüne Wiesen, Bäume und jede Menge Bäche und Flüsse mit klarem Wasser ließen Kerstin in Begeisterungsstürme ausbrechen. Eine Norwegenreise war immer ihr Traum gewesen. Auch wenn sie nur ein kurzes Stück in das Land hineinfuhren, war es doch ein wunderbarer Anfang.

»Habe ich schon gesagt, dass du vollkommen verrückt bist?«

»Mehrmals.« Iris lachte. »Ich wollte dir etwas Besonderes schenken. Es ist bloß schade, dass es nur fünf Tage sind. Mehr konnte ich mir einfach nicht leisten.«

»Du hättest es dir überhaupt nicht leisten sollen. Ich kann meinen Teil selbst zahlen.«

»Kommt gar nicht in die Tüte. Das nächste Mal vielleicht. Aber wer weiß, wann das ist, nachdem du demnächst in den schnöden Berufsalltag einsteigst.«

»Es ist ja nicht so, als ob ich irgendwo in der Versenkung verschwinde oder einen Frondienst verrichte.«

»Trotzdem verstehe ich nicht, dass du nicht studieren willst. Bei deinen Noten. Arzthelferin kann doch jeder.«




»Gar nicht wahr. Ich wollte schon immer einen medizinischen Beruf ergreifen, und am liebsten etwas mit Kindern. Ärztin ist mir zu hoch, das traue ich mir nicht zu. Aber Arzthelferin bei einem Kinderarzt ist perfekt. Ich freue mich riesig, dass ich die Ausbildungsstelle bekommen habe.«

»Wundert mich nicht. Du bist talentiert, fleißig, hast eines der besten Zeugnisse deines Jahrgangs, kannst gut mit Menschen umgehen, liebst Kinder, habe ich noch was vergessen?«

»Dass ich eine supertolle Freundin habe.«

Iris lachte. »Das ist wohl kaum ein Kriterium.«

»Nicht für den Job. Aber für ein schönes Leben.« Kerstin sah wieder nach draußen, wo auf der rechten Seite ein See lag. »Ich bin in Norwegen. Einfach Wahnsinn. Weißt du eigentlich, dass du verrückt bist?«

 

Eine knappe Stunde später kamen sie in dem kleinen Dorf Åraksbø an und suchten ihr Ferienhaus. Iris hatte eine exakte Wegbeschreibung bekommen und es war leicht zu finden. Es war ein kleines Häuschen am Anfang des Dorfes, mitten auf einer Wiese und etwas zurückgesetzt von der Straße. Ein grasüberwachsener Feldweg führte zum Haus, das komplett aus Holz gebaut war. Kerstin verliebte sich sofort. »Das ist ja richtig schnuckelig«, stellte sie fest.

»Ja, ich dachte, es reicht für uns zwei. Die anderen Ferienhäuser sind alle für vier oder sogar sechs Personen«, erklärte Iris. »Das schlägt sich selbstverständlich im Preis nieder. Dieses Haus hat ein Schlafzimmer und ein kleines Wohnzimmer mit Küchenzeile. Natürlich auch ein Bad, aber das war’s auch schon.«

»Was wollen wir denn mehr?«

»Eben. Komm, wir schauen, ob wir schon rein können. Der Eingang scheint auf der anderen Seite zu sein.«

Iris sperrte ihr Auto ab und trat auf die hölzerne Veranda, die auf die Rückseite des Hauses führte. Oder die Vorderseite, je nach Blickwinkel. Als sie um die Ecke bogen, sprang ein junger Mann auf, der dort auf einem Stuhl gedöst hatte.

»Sorry«, begann Iris und Kerstin konnte sehen, wie sie nach englischen Worten suchte. Sie wollte ihr gerade zu Hilfe kommen, als der junge Mann sie beide fröhlich angrinste.

»Hallo, ich habe auf euch gewartet«, sagte er in einwandfreiem Deutsch. Kerstin atmete unwillkürlich aus. Ihr Englisch war gut, aber sie unterhielt sich lieber in ihrer eigenen Sprache. Allerdings fiel ihr auch auf Deutsch nichts ein.



Zum Glück hatte Iris dieses Problem nicht. »Du sprichst Deutsch, das ist prima.« Sie hielt ihm die Hand hin. »Ich bin Iris. Und das ist meine Freundin Kerstin. Bist du der Eigentümer des Hauses?«

»Wäre ich gern.« Der junge Mann lachte, als er Iris’ Hand nahm. »Mein Name ist Morten.« Er wandte sich Kerstin zu und seine Augen weiteten sich unmerklich, als er auch ihr die Hand gab. »Hallo Kerstin.«

»Hallo. Ich freue mich, dich kennenzulernen.« Immerhin hatte sie etwas gesagt. Iris hielt ihr immer vor, dass sie zu schüchtern war, wenn sie neue Leute kennenlernte. Aber sie konnte nicht aus ihrer Haut. Und dieser junge Mann, der nur ein paar Jahre älter zu sein schien als sie selbst, ließ sie erstarren. Er war groß und blond und seine Augen waren blau wie ein Fjord im Sommer. Innerlich schüttelte sie den Kopf über sich. Ein Fjord im Sommer. Wusste sie denn, wie das aussah? Und wie anders wirkte ein Fjord im Winter? Ihre Gedanken verflüchtigten sich, als sie in diesen blauen Augen versank. So hatte sie sich den typischen Skandinavier vorgestellt. Fehlte nur noch der Norwegerpulli. Jetzt begann sie im Innern über sich zu lachen. Es war Juli und auch Norweger liefen da anscheinend nicht in dicken Pullis durch die Gegend. Zum Glück konnte Morten keine Gedanken lesen. Er hätte sich totgelacht.

Er merkte nichts von ihrem inneren Aufruhr. »Das Haus gehört einem Cousin meines Vaters«, erklärte er, als er sich wieder zu Iris umdrehte. »Aber er wohnt in Kristiansand und hat keine Lust, hier ständig nach dem Rechten zu sehen. Und seine Kinder haben keine Zeit dafür. Da ich hier in Bygland wohne, bin ich gebeten worden, die Feriengäste zu betreuen, wenn ich hier bin.«

»Oh, du bist unser persönlicher Betreuer.« Iris trat einen Schritt auf ihn zu. »Das gefällt mir. Wieso sprichst du so gut Deutsch?«

»Ich studiere in Hamburg.«

»Wirklich? Wir sind auch aus Norddeutschland. Aus Neumünster.«

»Kenne ich. Da fahre ich auf dem Weg nach Hamburg vorbei.«

»Dann sind wir ja fast Nachbarn.« Iris stand nun direkt vor ihm und sah lächelnd zu ihm hoch.

Kerstin wusste nicht, ob sie ihre Freundin bewundern oder sich für sie schämen sollte. Sie flirtete ganz offen mit Morten und das, obwohl sie sich noch keine fünf Minuten kannten.



»Sollen wir hineingehen?«, schlug sie vor und wunderte sich, wie kratzig ihre Stimme klang.

»Gern.« Morten lachte sie an und öffnete die Tür. »Kommt herein. Es ist ja nur ein kleines Haus …«

»Vollkommen ausreichend«, schnitt Iris ihm das Wort ab, als sie an ihm vorbei schritt. Schritt war tatsächlich der richtige Ausdruck. Kerstin beobachtete grinsend, wie Iris sich aufrichtete, um größer zu erscheinen.

Das Haus war auch von innen so schnuckelig, wie es von außen gewirkt hatte. Das Schlafzimmer hatte ein Stockbett, ein Nachtkästchen und einen Schrank. Mehr nicht. Das Wohnzimmer war etwas größer. An der Wand stand eine Couch und neben dem Fenster befand sich ein stabiler Tisch mit vier Stühlen. Die Küche bestand aus einem Herd und einer Spüle mit je einem Unterschrank und einem Hängeschrank darüber. Arbeitsfläche war so gut wie nicht vorhanden, aber dafür konnte man ja den Tisch hernehmen.

Kerstin hörte Iris und Morten im Hintergrund reden, doch sie konnte nichts verstehen. Sie ging wieder hinaus, stützte sich auf der Holzbrüstung der Veranda ab und genoss das Panorama. Das Haus stand direkt am Hang und vor ihm fiel die Wiese steil zur Hauptstraße ab. Nur einige kleine Birken versperrten den Blick auf die Straße. Dahinter breitete sich ein ausladender See aus. Es war alles so friedlich, so natürlich. Kerstin atmete tief ein.

»Gefällt es dir?« Morten war hinter sie getreten.

»Es ist wunderschön.« Zum Glück hatte sie ihre Sprachschwierigkeiten überwunden und konnte sich völlig normal unterhalten. »Wie heißt der See?«

»Das weißt du nicht?« Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Sie krümmte sich unter diesem Blick, aber nur kurz. »Nein«, gab sie zu und sah ihn an. »Bis vorhin wusste ich überhaupt nicht, wohin wir fahren. Iris wollte mich überraschen.«

Er gluckste und zeigte ihr dabei strahlendweiße Zähne. Noch so ein Klischee, dachte sie. Aber er konnte wirklich ein Model für Zahnpastawerbung sein. Sie riss sich von ihren unsinnigen Gedanken los und konzentrierte sich auf seine Worte.

»Dann ist deine Unkenntnis entschuldigt. Das ist der Åraksfjord.«

»Schön«, sagte sie nur.

»Ja, das ist er.«

Schweigend standen sie nebeneinander und sahen auf den See hinaus.



»Hey, was treibt ihr denn da?«, rief Iris und kam zu ihnen heraus.

»Ich bewundere die Aussicht.« Kerstin lachte ihre Freundin an. »Du hast den perfekten Ort gefunden. Danke dir.«

»Ich bin eben toll.« Iris sagte es zu ihr, doch sie schielte dabei zu Morten.

»Ich freue mich, dass es euch gefällt.« Er reichte Iris einen Schlüssel. »Der Haustürschlüssel. Passt gut darauf auf, es gibt nur diesen einen.«

»Wird gemacht.«

»Gut, dann lasse ich euch jetzt mal allein. Ich komme morgen Nachmittag noch einmal vorbei, um zu sehen, wie es euch geht und ob ihr etwas braucht.«

»Unbedingt.« Iris lächelte ihm überschwänglich zu und Kerstin nickte freundlich.

Iris wartete, bis Morten verschwunden war, dann legte sie ihrer Freundin den Arm um die Schultern. »Der ist vielleicht süß«, schwärmte sie.

»Ja, nicht übel«, stimmte Kerstin zu.

»Nicht übel? Hast du diese Augen gesehen? Die machen dem See Konkurrenz.«

»Du willst aber nichts mit ihm anfangen, oder?«

»Warum nicht?«

»Komm schon, Iris, ein Norweger?«

»Der in Hamburg studiert. Das ist nur ein Katzensprung.«

»Glaubst du wirklich, so ein Mann ist noch solo?«

»Hm.« Iris schürzte die Lippen. »Das könnte ein Argument sein. Aber das lässt sich ja herausfinden.«

Kerstin lachte. »Du bist unmöglich.«

»Ich weiß. Und verrückt. Und jetzt gehen wir und packen unsere Sachen aus. Ich nehme das obere Bett. Ich wollte schon immer ein Stockbett haben.«

»Von mir aus.« Kerstin war es egal, wo sie schlief. Hauptsache, es war hier in Norwegen in dieser kleinen Hütte, die für fünf Tage ihr Zuhause war.

Die Mädchen schliefen am nächsten Morgen aus. Doch als es zehn Uhr war, hielt Kerstin nichts mehr im Bett. Um lange zu schlafen, musste sie nicht nach Norwegen fahren, das konnte sie daheim genauso gut. Sie machte sich an die schwierige Aufgabe, Iris zu wecken.

»Hey, Lieblingsfreundin, aufwachen. Die Sonne scheint, wir sind in Norwegen und unsere Zeit hier ist viel zu kostbar, um sie zu verschlafen.«

»Ja, schon gut, nur noch fünf Minuten«, brummte Iris und drehte sich zur Wand.

Kerstin stapfte in das kleine Bad hinüber und duschte. Das Wasser war heiß und schoss mit einem kräftigen Strahl aus dem Duschkopf. Am liebsten wäre sie ewig darunter stehengeblieben. Doch schließlich drehte sie mit einem bedauernden Seufzer den Hahn zu. Ihre Dusche daheim war dagegen nur ein müdes Plätschern, weil ihr Vater auf dem Wasserspartrip war und die Zufuhr gedrosselt hatte.



Auf nackten Füßen tappte sie in die kleine Küche und machte sich mit dem Inhalt der wenigen Schränke vertraut. Erstaunt stellte sie fest, dass alles da war, was sie brauchen würden. Und noch einiges mehr. Die Kaffeemaschine sah ziemlich neu aus und auch die anderen Geräte waren gut in Schuss. Sie setzte Kaffee auf, deckte den Frühstückstisch und ging, um Iris erneut zu wecken.

Eine halbe Stunde später saßen sie endlich gemeinsam am Tisch.

»Die Dusche ist göttlich«, seufzte Iris. »Das Wasser ist richtig weich.«

»Und heiß«, stimmte Kerstin zu. »Das habe ich daheim nicht.« Sie biss in ihr Brot. »Was machen wir heute? Gehen wir wandern?«

Iris verzog das Gesicht. »Lieber baden.«

»Aber baden können wir daheim auch. Ich will was von dem Land sehen.«

»Ja, ich auch. Natürlich. Vielleicht kann Morten uns die Gegend zeigen.«

»Aha, daher weht also der Wind.« Kerstin verkniff sich ein Grinsen. »Wir können ihn ja fragen, wenn er heute Nachmittag kommt.«

»Eben. Da sollten wir hier sein und nicht auf einem langen Ausflug. Also baden.«

»Gut, dann gehen wir baden.« Kerstin fand es schade, einen ganzen Tag von ihrem kurzen Urlaub zu vertrödeln, andererseits sah der See ungemein anziehend aus. Es würde bestimmt Spaß machen, zu schwimmen und zu plantschen.

Der Åraksfjord war nicht besonders warm, aber das störte die Mädchen nicht. Ausgelassen wie kleine Kinder alberten sie im Wasser herum und spritzen sich gegenseitig an. Kerstin schwamm ein ganzes Stück hinaus, doch dann wurde es ihr mulmig. Der See sah so unendlich groß aus, dass sie sich völlig verlassen fühlte. Da drehte sie lieber um und gesellte sich zu Iris, die sich von der Sonne bescheinen ließ.

Als sie am Nachmittag zum Haus zurückkamen, waren sie beide müde, aber noch voller Tatendrang. Gemeinsam kochten sie sich eine leichte Mahlzeit. Kerstin entging nicht, dass Iris immer wieder verstohlen zum Fenster hinaussah. Sie konnte es kaum erwarten, Morten wiederzusehen.

Sie spülten gerade das Geschirr ab, als der junge Mann an die Tür klopfte und eintrat. Iris ließ vor Schreck fast den Teller fallen, den sie abtrocknete. Kerstin grinste wissend.

»Hallo Morten«, flötete Iris. »Schön, dass du kommst.«



»Das habe ich euch Ladys ja versprochen«, lachte er und zwinkerte ihnen freundlich zu. Kerstin sah ihrer Freundin an, dass sie Mortens Charme komplett zum Opfer gefallen war, aber auch ihr gefiel ihre neue Bekanntschaft ziemlich gut.

Er holte zwei Flaschen Weißwein aus einer Plastiktasche hervor. »Ich hoffe, ihr habt für den Abend noch nichts geplant. Ich möchte euch nämlich gerne näher kennenlernen.«

»Nein, wir haben nichts geplant.« Iris wandte sich mit unschuldigem Blick an Kerstin. »Oder haben wir?«

Es wurde immer schwerer, sich das Grinsen zu verkneifen. »Nein. Keine Ahnung, was man hier in der Gegend am Abend anfangen kann.«

»Åraksbø hat in der Hinsicht nicht viel zu bieten. Da müsstet ihr nach Bygland kommen. Ich kann euch gerne mal ins dortige Nachtleben einführen.«

»Au ja«, freute sich Iris. »Das klingt doch super.«

Morten stellte den Wein in den Kühlschrank. »Was habt ihr heute getan?«

»Wir waren baden.«

»Wolltet ihr euch nicht die Gegend ansehen?«

»Wir dachten, dass du uns vielleicht die Naturschönheiten zeigen möchtest.« Mit einem koketten Augenaufschlag sah Iris ihn an.

»Gerne. Was wollt ihr denn sehen? Es gibt eine Menge Berge, Seen und Wasserfälle in der Gegend. Aber auch Museen, wenn euch das lieber ist.«

Die Mädchen schüttelten den Kopf. »Wasserfall«, schlug Iris vor und sah Kerstin fragend an. Sie nickte.

»Na, um einen Wasserfall zu sehen, braucht ihr keine Führung.« Morten lachte. »Die findet ihr hier an fast jeder Ecke. Zum Beispiel der Reiårsfossen auf der anderen Seite. Es gibt auch einen See im Hinterland. Es ist eine schöne Wanderung, nicht allzu anstrengend.«

»Hört sich prima an.« Wie zufällig berührte Iris den Arm des jungen Mannes.

»Sollen wir uns auf die Veranda setzen?«, schlug Kerstin vor.

»Auf jeden Fall.« Morten nickte. »Geht ihr Mädchen schon vor, ich bringe den Wein. Die paar Minuten im Kühlschrank werden zwar nicht geholfen haben, aber wenigstens das zweite Glas wird kalt sein.«

 

Der Abend wurde sehr gemütlich. Durch die lange Helligkeit verlor Kerstin beinahe das Zeitgefühl. Sie war erstaunt, als sie auf die Uhr sah und feststellte, dass es zweiundzwanzig Uhr war. Die Sonne stand immer noch am Himmel, wenn auch bereits ziemlich tief. Sie drehte ihr Weinglas in den Händen. Morten versorgte sie fortlaufend damit, es war schon ihr drittes Glas. Aber es schien ihr nicht in den Kopf zu steigen. Es war ein sehr leichter Wein und sie war Morten dankbar, dass er so umsichtig war.



Sie fühlte sich wohl in seiner Gesellschaft und es kam nie auch nur ein Anflug von Verlegenheit auf. Es war, als würden sie sich schon seit ewigen Zeiten kennen. Iris hatte inzwischen rote Wangen bekommen und sie hing an Mortens Lippen wie eine Biene an einer Blüte. Sie saugte jedes Wort von ihm auf.

Als es kühl wurde, gingen sie hinein. Auf dem Weg zum Tisch hielt Morten beim Kühlschrank und schenkte die Gläser wieder voll.

Iris lief ins Schlafzimmer hinüber und kam mit einer Polaroidkamera zurück. »Hat mein Vater mir ausgeliehen«, erklärte sie und gab Morten den Apparat. »Machst du ein Foto von uns?«

»Aber klar.« Morten klappte die Kamera auf, während sich Kerstin und Iris an den Tisch setzten und sich zuprosteten. Er sah zu, wie das fertige Bild ausgeworfen wurde, und legte es zum Trocknen auf die Anrichte.

»Super. Im Regal liegt ein Gästebuch, da können wir es einkleben. Und jetzt macht Kerstin eins von uns zwei, wenn es dir recht ist.«

Morten setzte sich zu ihr und lachte fröhlich in die Kamera.

»Super. Und jetzt noch eins von uns dreien«, schlug Iris vor. »Das geht mit dem Selbstauslöser.«

Kerstin schüttelte den Kopf. »Diese Bilder sind ziemlich teuer. Wir sollten ein paar für später aufheben.«

»Ich habe ja auch noch meinen normalen Fotoapparat dabei. Die Polaroid ist einfach für schnelle Fotos.«

»Na gut, wenn du willst.«

Morten legte Kerstin den Arm um die Schultern. Iris stellte unterdessen die Kamera ein und lief eilig an Mortens andere Seite. Er hatte gerade noch Zeit, auch ihr den Arm um die Schultern zu legen, als der Auslöser schon klickte.

Iris strahlte und legte das Bild zu den anderen. Dann nahm sie einen großen Schluck von ihrem Wein. »Ach Leute, haben wir es nicht schön hier?«

»Unbedingt.« Morten lächelte sie an. »Ich freue mich sehr, dass ihr das Haus gemietet habt. Die letzten Gäste waren ein älteres Ehepaar. Ganz nett, aber mit denen konnte ich nicht so viel anfangen.«

»Du bist ja auch nicht verpflichtet, dich um die Mieter zu kümmern, oder?«

»Nein, aber bei euch mache ich es gerne. Durch mein Studium in Hamburg habe ich hier nicht mehr allzu viel Kontakte. Ich dachte schon, dass meine Semesterferien langweilig werden.«



»Wir sind ja nur fünf Tage da.«

»Leider. Aber wenn es euch nicht stört, würde ich euch gerne noch mehr von der Gegend zeigen.«

Iris strahlte. »Es stört uns ganz bestimmt nicht. Oder Kerstin?«

»Natürlich nicht.« Auch Kerstin freute sich, mehr Zeit mit dem angenehmen jungen Mann verbringen zu können.

Eine Stunde später fuhr sich Morten durch die blonden Haare. »Leute, ich muss heim«, seufzte er bedauernd, als er aufstand.

»Schade.« Iris nahm seine Hand. »Kannst du denn noch fahren?«

»Kein Problem. Ich hatte nicht so viel von dem Wein. Das meiste davon habt ihr getrunken. Die Flaschen sind beide leer.«

»Wirklich?« Kerstin riss die Augen auf. »Ich hatte gar nicht den Eindruck, dass wir so sehr gebechert haben.«

»Wir sind eben perfekt versorgt worden«, kicherte Iris. Sie war eindeutig etwas beschwipst. Als sie aufstand, taumelte sie leicht. Morten fing sie auf.

»Du bringst sie besser ins Bett«, lachte er in Kerstins Richtung.

Sie nickte, vermutete allerdings, dass Iris nur Theater spielte, um sich in Mortens Armen wiederzufinden. Doch als er sich verabschiedet hatte, merkte sie, dass ihre Freundin wirklich nicht mehr ganz standfest war.

»Gehen wir ins Bett«, schlug sie vor.

»Ach nein, ich will noch mal raus. Es ist ja nicht mal richtig dunkel.«

»Da kannst du auch lange warten. Komm schon, du musst morgen fit sein für unsere Wanderung.«

»Ich bin fit«, nuschelte Iris und stolperte über ihre eigenen Füße.

»Das sehe ich.« Kerstin hakte sie unter und brachte sie ins Schlafzimmer. »Wie viel hast du denn getrunken? Der Wein war doch gar nicht so schwer.«

»Ich fand schon, dass er ordentlich Power hatte. War ein guter Tropfen.« Iris machte sich daran, die Leiter zum oberen Stockbett zu erklimmen. »Waschen schenke ich mir«, verkündete sie. »Wir waren schließlich baden.«

»Aber vielleicht solltest du dich ausziehen, bevor du im Bett liegst«, meinte Kerstin.

»Gute Idee.« Iris zog ihr T-Shirt über den Kopf. Doch auf halbem Weg blieb es hängen und nahm ihr die Sicht. Sie drehte sich um die eigene Achse und knallte fast gegen das Stockbett. Lachend fing Kerstin sie ab und zog ihr das T-Shirt vom Kopf. Iris verlor das Gleichgewicht und hielt sich an ihr fest. Gemeinsam plumpsten sie auf Kerstins Bett und begannen beide wie auf Kommando zu kichern.



»Ich denke, du bleibst am besten gleich hier«, riet Kerstin ihr.

Iris nestelte am Knopf ihrer Shorts und schaffte es tatsächlich, sie abzustreifen. »Okay. Weck mich rechtzeitig, damit ich noch duschen kann, bevor Morten kommt.«

»Natürlich.« Kerstin machte sich daran, über die kurze Leiter ins obere Bett zu steigen. Gemütlich streckte sie sich aus und dachte voller Vorfreude an den nächsten Tag.

 

Mitten in der Nacht wachte sie durch ein merkwürdiges Geräusch auf. Ein Lichtschein drang durch die offene Tür aus dem Flur. Da hörte sie es wieder. Oh je. Sie stieg aus dem Bett, angelte nach ihren Schlappen und lief ins Badezimmer hinüber, wo sie Iris würgend und spuckend über die Toilette gebeugt vorfand. Hilfreich hielt sie ihr die langen Haare aus dem Weg, wandte sich jedoch leicht ab. Sie musste nicht auch noch zusehen, wie ihre Freundin sich übergab. Der säuerliche Geruch löste in ihr beinahe ebenfalls einen Brechreiz aus.

Schließlich richtete sich Iris auf und betätigte den Spülkasten. »Tut mir leid«, flüsterte sie.

»Muss es nicht.« Kerstin füllte am Wasserhahn ein Glas und reichte es ihr. »Geht es dir besser?«

»Nicht wirklich.« Iris spülte sich den Mund aus. »Aber mir ist nicht mehr ganz so schlecht.«

»Vielleicht war das letzte Glas Wein doch zu viel.«

Sie lächelte kläglich. »Vermutlich. Dabei hatte ich doch genauso viel wie du. Und dir merkt man überhaupt nichts an.«

»Na komm, ich bringe dich ins Bett zurück.«

Kerstin deckte ihre Freundin fürsorglich zu und warf einen Blick aus dem Fenster. Es wurde schon wieder hell. Aber ein paar Stunden Schlaf konnte sie sich noch gönnen.

 

Leise stieg sie die Leiter hinunter, um Iris nicht zu wecken. Doch die Freundin war wach.

»Wie geht es dir?«, fragte Kerstin behutsam.

»Furchtbar.« Iris legte den Arm über die Augen und stöhnte. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen solchen Kater gehabt. Mein Kopf zerspringt gleich.«

»Du Arme.« Mitleidig setzte sich Kerstin an ihr Bett. »Glaubst du, ein Kaffee hilft dir?«

»Kann auf jeden Fall nicht schaden.« Iris blinzelte unter ihrem Arm hervor. »Ich will fit sein, wenn Morten kommt.«

Kerstin sah auf ihre Uhr. »Das hat Zeit. Versuch, noch ein wenig zu schlafen. Ich rufe dich dann.«



»Danke. Du bist ein Schatz.«

Kerstin gönnte sich erneut eine ausgiebige Dusche. Leise, um Iris, die wieder eingedämmert war, nicht zu wecken, holte sie ein Buch aus dem Koffer und setzte sich auf die Veranda. Nach einer Stunde rüttelte sie die Freundin sanft aus dem Schlaf. »Tut mir leid, aber wenn wir fertig sein wollen, wenn Morten kommt, musst du aufstehen.«

Iris nickte. Der Gedanke an Morten schien ihr Kraft zu geben.

»Ich richte das Frühstück her.«

»Nur Kaffee für mich, danke. Ich kann jetzt nichts essen.«

»Ist vielleicht auch vernünftiger. Für ein Katerfrühstück haben wir nichts da.«

Kerstin ließ ihre Freundin allein. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein und richtete sich eine Schüssel Müsli her. Sie hatten einige Pakete Brötchen zum Aufbacken mitgenommen, doch wenn Iris nichts wollte, konnte sie sich die Mühe sparen. Sie löffelte bereits an ihren Cerealien, als Iris hereinstolperte. Ihr Gesicht war bleich und sie war nicht ganz trittfest.

»Meine Güte, siehst du käsig aus«, kommentierte Kerstin ihr Erscheinungsbild.

»So fühle ich mich auch.« Iris schenkte sich Kaffee ein. Doch bereits nach dem ersten Schluck rannte sie überstürzt ins Badezimmer. »Das war nichts«, meinte sie, als sie nach einigen Minuten zurückkam.

»Komisch, dass du nicht mal den Kaffee bei dir behalten kannst.« Kerstin musterte sie aufmerksam. »Das kann doch kein normaler Kater sein. Hoffentlich wirst du nicht krank.«

»Das fehlte noch. Aber wandern kann ich mir heute echt schenken.«

»Schade. Dann verschieben wir es eben.«

In diesem Moment hörten sie Morten. Kerstin sprang auf, um die Haustür zu öffnen, die sie abgesperrt hatte. Sie lächelte ihn an. »Guten Morgen.«

»Guten Morgen.« Er erwiderte ihre Geste mit einem strahlenden Lachen. »Alles okay?«

»Nein, leider nicht. Iris ist krank.«

»Ach.« Das Lachen erlosch. »Schlimm?«

»Sie meint, sie hat nur einen Kater. Aber sie hat sich schon zweimal übergeben.«

»Hört sich nicht gut an.« Morten ging hinein und begrüßte Iris. Besorgt fühlte er ihre Stirn. »Fieber scheinst du nicht zu haben«, stellte er fest.

Iris legte ihre Hand auf seine. »Mir ist nur richtig elend. Tut mir leid, dass ich den Ausflug verderbe, aber ich kann nicht gehen.«



»Das ist eindeutig. Du gehst nur in eine Richtung und das ist zurück ins Bett. Ruh dich aus, dann geht es dir morgen schon wieder besser. Kerstin und ich können auch allein losziehen.«

»Nein«, protestierte Kerstin sofort. Wie kam er auf die Idee, dass sie Iris in dieser Verfassung allein lassen würde?

»Du kannst aber nichts für sie tun. Iris braucht Ruhe. Du störst sie vermutlich mehr, als dass du ihr hilfst.«

Kerstin musterte ihre Freundin und erkannte deren Zwiespalt. Iris wollte mit Morten zusammen sein, aber es gefiel ihr nicht, dass er sie in diesem Zustand sah.

»Geht ruhig«, entschied sie schließlich. »Ich überlebe es schon.«

»Ich will aber nicht ohne dich gehen«, protestierte Kerstin.

»Was willst du denn tun? An meinem Bett sitzen und meine Hand halten? Den ganzen Tag hier im Haus bleiben, nur weil ich mich mies fühle? Ich habe dir diesen Urlaub geschenkt, damit du ein Stück von Norwegen siehst. Geh schon. Schau dir den Wasserfall an.«

Kerstin nickte. Sie wusste, wie schwer es Iris fiel, sie mit Morten ziehen zu lassen, und rechnete es ihr hoch an. Sie legte ihr die Hand auf die Schulter. »Hoffentlich geht es dir bald besser.«

 

 

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