Kapitel 8
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Ein beißender Geruch, der ihm in die Nase stieg, weckte ihn. Er setzte sich auf und knipste die Nachttischlampe an, doch es tat sich nichts. Im Zimmer blieb es dunkel. Er hustete heftig, als es ihm unangenehm im Hals kratzte. Hinter der leicht geöffneten Tür zum Flur flackerte Licht. Es waberte und knisterte. Er bekam Angst. Schnell zu Mama, war seine Idee. Bei seiner Mutter im Bett würde er sicher sein vor dem flackernden Licht und dem bedrohlichen Knistern. Er stieg aus dem Bett und sog scharf die Luft ein. Der Fußboden war heiß. Mit den Füßen tastete er nach seinen Hausschuhen und war froh, dass sie noch da standen, wo seine Mutter sie am Abend vor seinem Bett abgestellt hatte. Schniefend wischte er sich die Augen aus, die unnatürlich brannten und tränten, und tastete sich vorwärts in Richtung Tür. Er zog sie weiter auf und schrie auf. Auch die Tür war heiß. Ihre Außenseite brannte. Der ganze Flur brannte und war voller Rauch. Gelbe Flammen züngelten an der Treppe zum Erdgeschoß. Er wich zurück. Er hatte Angst, hinunter zu gehen.
»Mama«, schrie er aus Leibeskräften. Im gleichen Augenblick begann Jan in seinem Zimmer nebenan ein ohrenbetäubendes Gebrüll.
Seine Mutter kam aus dem Elternschlafzimmer geschossen. Sie trug nur ihr Nachthemd und war barfuß. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, als sie das Feuer sah.
Wie hypnotisiert starrte er auf die Flammen, die um die Treppenstufen züngelten. Nicht mehr lange und die ganze Treppe würde brennen. Weinend sah er zu seiner Mutter.
»Komm«, rief sie, während sie ihm entgegen hastete. »Hab keine Angst.«
Er vertraute ihr. Wenn sie sagte, er brauchte keine Angst zu haben, dann stimmte das. Er holte tief Luft und rannte los.
Auf der Hälfte der Treppe fing sie ihn auf und trug ihn nach unten zur Haustür. »Lauf zu den Nachbarn. Sie sollen die Feuerwehr rufen. Beeile dich.«
»Ich trau mich nicht«, jammerte er. »Komm mit.«
»Nein, mein Schatz. Ich muss Jan holen. Du bist ein tapferer Junge. Du kannst das. Los jetzt. Renn so schnell wie noch nie in deinem Leben.«
Sie drehte sich um und lief die Treppe hinauf, ungeachtet der Tatsache, dass das Treppengeländer schon lichterloh brannte und die Flammen immer mehr auf die hölzernen Stufen übergriffen. Jans Gebrüll wurde leiser und verstummte dann ganz. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Er besann sich auf seinen Auftrag. Zu den Nachbarn. Zu welchen denn? Sie hatten drei Nachbarn. Aus dem Bauch heraus entschied er sich für die Johannsens, die mochte er am liebsten, auch wenn der Weg zu ihnen etwas länger war als zu den Häusern direkt neben ihnen.
Er rannte über die Straße und klingelte Sturm. »Was soll das denn?«, hörte er die ärgerliche Stimme des Nachbarn und bekam es mit der Angst. Wenn der Mann nun schimpfte, weil er mitten in der Nacht bei ihm läutete? Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, doch er blieb an Ort und Stelle. Endlich ging die Tür auf. »Was willst du denn hier?«, fragte der große Mann in einer Mischung aus Verwunderung und Ärger über die nächtliche Störung.
Er heulte und schluchzte so sehr, dass er kaum ein Wort herausbrachte. »Feuerwehr«, stammelte er nur.
»Feuerwehr? Wie kommst du denn auf diese …« Der Nachbar blickte über die Straße. »Oh mein Gott«, stieß er hervor und rannte ins Haus zurück.
Dann war die Nachbarin neben ihm. Sie war eine rundliche Frau, die ihm immer Kekse gab. Er mochte sie. Sie nahm ihn auf den Arm und trug ihn in die Küche. Ihre Stimme zitterte, als sie ihn auf ihren Schoß setzte. »Wo ist deine Mama?«, fragte sie sanft.
Er schluchzte immer noch. »Drin«, schniefte er.
»Im Haus?«
Er nickte.
»Und dein kleiner Bruder?«
»Auch.«
»Um Gottes willen.« Die Nachbarin sah zu ihrem Mann, der eilig in seine Kleider geschlüpft war.
»Lass den Jungen nicht raus«, rief er seiner Frau zu, als er zur Tür eilte. »Er braucht das nicht zu sehen.«
Die Feuerwehrsirene durchschnitt die Stille der Nacht. Er drückte den Kopf an die Brust der Nachbarin. Das Geräusch ging ihm durch und durch. Wo war seine Mama? Warum kam sie nicht, um ihn abzuholen?
Frau Johannsen setzte ihn auf einen Stuhl und lief zum Fenster, um durch die Vorhänge zu schielen. »Um Gottes willen«, murmelte sie wieder und wieder. »Was für ein Unglück.« Dann drehte sie sich um und lächelte ihn an. »Es wird alles gut. Die Feuerwehr ist da. Es brennt kaum noch. Komm, ich bringe dich ins Bett. Du kannst hier schlafen. Morgen früh können deine Eltern dich dann abholen.«
Er nickte. Er war müde und seine Füße taten ihm weh. Er rutschte vom Stuhl. »Kann ich einen Keks haben?«
»Einen Keks? Wirklich?« Annika grinste ungläubig.
»Ich glaube schon. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, weil es die Keksnachbarin war.«
»Was ist dann passiert?«
»Ich bin tatsächlich eingeschlafen. Am Morgen hat mein Vater mich abgeholt. Ich habe immer wieder gefragt, wo Mama und Jan sind, aber er hat mir nicht geantwortet. Meine Tante Malin kam und nahm mich mit. Sie hat mir schließlich gesagt, dass Mama und Jan bei dem Brand verletzt worden sind und im Krankenhaus sind.«
»Jan erzählte von einer Tante, die bei euch gewohnt hat.«
»Ihr Mann ist sehr früh gestorben und sie hat nicht mehr geheiratet. Sie hat auch keine Kinder, deshalb fand mein Vater es eine ideale Lösung, dass sie bei uns bleibt, um sich um uns zu kümmern. Meine Mutter ist am nächsten Tag ihren Verletzungen erlegen. Jan war lange im Krankenhaus, aber er hat es geschafft. Bis auf die Brandnarbe an seinem Schenkel hat er nichts zurückbehalten. Er hat wirklich Glück gehabt.«
Annika legte ihm die Hand auf den Arm. »Es tut mir so leid für euch.«
»Ich frage mich immer, ob sie noch leben würde, wenn ich nicht so ein Angsthase gewesen wäre. Ich hätte Jan gleich mitnehmen können. Ich hätte nur in sein Zimmer gehen und ihn aus dem Bett holen müssen, anstatt mich an die Treppe zu stellen und nach meiner Mama zu brüllen.«
»Du warst fünf Jahre alt, Erik.«
»Stimmt. Alt genug, um meinen Bruder zu holen. Alt genug, um meine Mutter nicht an der Haustür noch aufzuhalten. Es waren nur ein paar Sekunden, aber vielleicht waren sie entscheidend. Ich vergesse nie das Bild, wie sie mit nackten Füßen über die Treppe gelaufen ist, als wären die Flammen überhaupt nicht da.«
»Mütter können Unmenschliches leisten, wenn es um ihre Kinder geht.«
»So sagt man, ja. Sie hat Jan definitiv das Leben gerettet.«
»Er fühlt sich deshalb auch schuldig.«
»Jan? Er war noch viel zu klein.«
»Trotzdem hat sie sein Leben für ihn gegeben. Das nagt an ihm.«
Erik sah über den See. »Dann weiß ich, wie er sich fühlt.«
»Habt ihr nie darüber gesprochen?«
»Männer unter sich?« Er schnaubte spöttisch. »Was glaubst du denn?«
Annika fühlte sich eigentümlich berührt, dass beide Männer ihr das Herz ausgeschüttet hatten und gegenseitig nie über ihre Schuldgefühle gesprochen hatten. »Wo war dein Vater an dem Abend?«, fragte sie leise.
»Mit Freunden unterwegs. Sie waren beim Angeln und sind in einer Wirtschaft hängen geblieben. Als er nach Hause kam, war die Straße von Feuerwehrautos verstopft.«
»Ich kann mir seinen Schrecken vorstellen, als er feststellte, dass es sein Haus war, das da gerade abbrannte. Vermutlich hat er ebenfalls Schuldgefühle, weil er nicht da war.«
Erik nickte. »Wenn er pünktlich heimgekommen wäre, wäre bestimmt alles anders gelaufen. Oder wenn er rechtzeitig gekommen wäre, um das Feuer im Keim zu ersticken. Oder, oder, oder. Es ist geschehen und niemand kann etwas daran ändern.«
»Aber es beschäftigt euch alle.«
Erik holte tief Luft. »Das ist etwas, vor dem keiner davonlaufen kann. Da ist keine Entfernung groß genug, es holt dich immer wieder ein.«
War das auch ein Grund, warum er Norwegen verlassen hatte? Wollte er vor den Gedanken an seine Mutter fliehen? Annikas Herz flog ihm zu, als sie ihn so nachdenklich sitzen sah.
Er strich sich die widerspenstigen blonden Haare aus der Stirn und stand auf. »Es wird Zeit, heimzufahren.« Er seufzte. »Danke.«
»Wofür?«
»Fürs Zuhören. Das hat gut getan.«
»Gerne.« Sie erhob sich ebenfalls.
Er sah ihr tief in die Augen. »Ich mag dich, Annika.«
Sie fuhr sich mit den Zähnen über die Unterlippe. Was sollte sie darauf antworten?
Sie traten von der Veranda auf den grasbewachsenen Vorplatz, als Jans SUV mit quietschenden Reifen hinter Eriks Golf hielt. Mit ungläubigem Blick sprang er heraus. »Was machst du denn hier?«, rief er aufgebracht.
Erik grinste. »Ich habe Annika besucht. Was dagegen?«
»Ja. Ja, ich habe was dagegen.« Jan stürzte sich auf Erik, der vor Überraschung einige Schritte zurück trat und sich auf der Wiese wiederfand, die das Haus umgab. Jan begann ihn auf Norwegisch anzuschreien, während er versuchte, seinen Bruder mit den Fäusten zu treffen. Erik wich den Schlägen zuerst aus, doch dann wehrte er sich. Die beiden Männer wälzten sich im Gras und prügelten aufeinander ein.
»Seid ihr verrückt?«, rief Annika. »Hört auf!«
Keiner der Männer hörte auf sie. Sie bekam es mit der Angst zu tun. Gleich hinter ihnen fiel der Hang steil zur Straße ab.
»Jan! Erik! Lasst den Quatsch! Was ist denn in euch gefahren?« Sie versuchte, sich zwischen die kämpfenden Männer zu drängen, bekam dabei aber selbst einen Hieb in die Seite ab. So kam sie nicht weiter. Sie hatte Angst, dass sich die Brüder wirklich ernsthaft verletzen würden. Gehetzt sah sie sich um. Dann rannte sie zu dem Gartenschlauch, der an einem Wasseranschluss am Haus hing, und füllte den danebenstehenden Eimer mit kaltem Wasser. Hinter sich hörte sie die Männer, die sich Beleidigungen an den Kopf warfen. Sie musste kein Norwegisch können, um das zu verstehen.
Endlich war genügend Wasser im Eimer. Nicht ohne Genugtuung schüttete sie es über den zwei Streithähnen aus, die mit einem überraschten Schrei auseinanderfuhren und sie anstarrten.
»Gut so«, knurrte sie. »Spinnt ihr denn?«, fuhr sie dann heftig auf. »Ihr prügelt euch doch nicht meinetwegen, oder? Ich glaube, ihr seid nicht mehr ganz dicht. Ich will von keinem von euch was, kriegt das endlich in eure Schädel rein.« Sie wandte sich ab. »Seid froh, dass ihr einen Bruder habt.«
Sie lief auf die Veranda, fest entschlossen, ohne einen weiteren Blick ins Haus zu gehen, doch natürlich drehte sie sich noch einmal um. Die zwei Männer waren aufgestanden und starrten einander an. Beide hatten Blessuren davon getragen. Jans T-Shirt war zerrissen und die Kleidung beider Männer schmutzig und voller Grasflecken. Erik begann verhalten zu grinsen, als er Jan ansah, doch der reagierte nicht darauf. Als er an Erik vorbei in Richtung der Autos ging, gab er seinem Bruder einen heftigen Stoß vor die Brust. Erik taumelte rückwärts, verlor den Halt und fiel den Hang hinab. Unkontrolliert drehte er sich um die eigene Achse und schlug einen Purzelbaum nach dem anderen.
Annika stand auf der Veranda und sah mit schreckgeweiteten Augen zu. Jan zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen.
Erik versuchte vergeblich, seinen Fall zu bremsen. Der Hang war einfach zu steil. Schließlich knallte er gegen einen Baum und blieb betäubt liegen.
»Erik!« Jan rannte den Hang hinunter und wäre beinahe selbst noch gestürzt. Annika folgte ihm etwas langsamer. Als sie bei Erik ankam, öffnete er gerade die Augen. Jan stützte ihn. »Bist du in Ordnung?«
Erik starrte ihn an. »Hau ab!«
Jan zuckte zurück. »Was?«
»Ich sagte hau ab. Verschwinde.« Es folgten einige norwegische Worte, die Jan blass werden ließen. Das Blut, das ihm aus einer Platzwunde an der Wange lief, stand dazu in krassem Gegensatz. Langsam rappelte er sich auf, warf Annika einen hilflosen Blick zu und stapfte den Hang hinauf.
»Jan«, rief sie ihm nach. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Erik helfen oder Jan hinterherlaufen. Was war das nur für eine verfahrene Situation? Und sie schien der Auslöser dafür gewesen zu sein.
»Ruf mich morgen an«, sagte Jan über die Schulter, blieb aber nicht stehen. Er kämpfte sich die Anhöhe hinauf, krabbelte über die Kante und verschwand aus ihrem Blickfeld. Kurz darauf knallte eine Autotür und sie hörte die durchdrehenden Reifen, als er davonfuhr.
Erschrocken wandte sie sich Erik zu. Ihm schien nicht allzu viel zu fehlen und das machte sie wütend. »Musste das sein?«, fuhr sie ihn an. »Was hast du zu ihm gesagt?«
»War vielleicht ein bisschen übertrieben«, gab er zu. »Aber was muss er sich auch auf mich stürzen wie ein Wahnsinniger? Ich habe ihm doch nichts getan.« Er rollte seine Schulter und verzog das Gesicht.
»Hast du Schmerzen?«
»Es geht.«
Annika betrachtete ihn genauer. Er hatte einen Riss an der Stirn, aus dem Blut sickerte. Seine Lippe war aufgeplatzt und seine Wange zierte eine Schramme, die sich bereits verfärbte. »Er hat dich gut erwischt.«
»Ich wusste gar nicht, dass er das in sich hat.« Erik versuchte zu grinsen, ließ es aber sein und tastete stattdessen nach seiner blutigen Lippe. »Kannst du mir aufhelfen?«
Annika hielt ihm die Hände hin. Es entging ihr nicht, wie Erik stöhnte, als er sich aufrappelte. Aber anscheinend hatte er sich nichts gebrochen.
Er sah skeptisch den Hang hinauf und drehte sich dann zur Straße um. »Ich glaube, ich nehme den langen Weg«, entschied er und hinkte die letzten Meter zur Fahrbahn hinunter. Dabei hielt er seinen rechten Arm fest.
»Du hast dich doch verletzt.« Annika beeilte sich, ihn einzuholen.
»Ich bin mit der Schulter gegen den Baum geknallt und irgendwo unterwegs mit dem Fuß falsch aufgekommen.« Er verzog das Gesicht. »Ist aber nicht so schlimm.«
Annika war nicht überzeugt, als sie ihn beobachtete. »Ich kann schnell mein Auto holen«, schlug sie vor, doch er schüttelte den Kopf.
»Meins steht hinter deinem. Du kommst gar nicht raus.« Er lächelte ihr zu. »Ich schaffe es schon.«
Sie konnte nichts weiter tun, als ihn zu begleiten. Die Straße lief in weitem Bogen um den Hang herum und traf nach einem halben Kilometer auf den Weg, der durchs Dorf ging. Erik blieb öfter stehen, um zu Atem zu kommen, denn auch die Straße führte bergauf. Er seufzte tief auf, als sie schließlich wieder an der Hütte angekommen waren. Neben seinem Auto verhielt er und nestelte in seiner Hosentasche.
»Was hast du vor?«, fragte Annika, als er den Autoschlüssel herauszog.
»Heimfahren natürlich.«
Sie sah ihn nur an. »Ich habe es vorhin euch beide gefragt, jetzt wiederhole ich die Frage: Spinnst du? Du bist gerade verprügelt worden, bist den Hang hinuntergefallen und gegen einen Baum gekracht. Dir läuft das Blut in die Augen, dein rechter Arm ist halb lahm und ob du mit diesem Fuß Gas geben kannst, ist auch noch die Frage. Du fährst jetzt nicht heim.«
»Und was mache ich dann?«
»Am besten bringe ich dich zu einem Arzt.«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Glaub mir, es sieht schlimmer aus, als es ist. Morgen bin ich wieder fit.«
»Okay. Morgen vielleicht. Aber nicht jetzt. Du kommst mit rein, lässt dich von mir verarzten und schläfst dich aus.«
Erik starrte sie an. Es schien ihm schwerzufallen, einen klaren Gedanken zu fassen. Schließlich nahm Annika ihn einfach am Arm und führte ihn ins Haus. Sie drückte ihn auf die Couch und holte den Beutel, in den sie eine kleine Erste-Hilfe-Ausrüstung gepackt hatte. Als sie seine Wunden säuberte, stellte sie fest, dass sie tatsächlich nur oberflächlich waren. Seine Schulter und den Knöchel, der inzwischen angeschwollen war, behandelte sie mit einer schmerzstillenden Salbe. Sie beschloss, den nächsten Tag abzuwarten. Wenn er den Arm dann immer noch nicht vernünftig heben konnte, würde sie ihn zu einem Arzt bringen. Sie half ihm, das T-Shirt auszuziehen, und warf es achtlos zur Seite.
»Den Rest kann ich alleine«, wehrte er ab, als sie sich an seiner Jeans zu schaffen machte.
»Okay. Dann komm. Ich bringe dich ins Bett.«
Er grinste. »Ich hatte gehofft, dass du das sagen würdest.«
Annika schmunzelte. Es war ein gutes Zeichen, dass er schon wieder mit ihr flachste. Sie half ihm ins Schlafzimmer und ließ ihn auf das untere der Stockbetten sinken. In Ermangelung an Bettzeug hatte sie einfach eine Wolldecke darauf ausgebreitet und eine weitere bereitgelegt, um ihn zuzudecken.
Er sah sich um. »Sieht aus wie dein Schlafzimmer.«
»Im anderen hat Jan seine Arbeitsmaterialien.«
»Was für Arbeitsmaterialien?«
»Ihr redet wirklich nicht viel miteinander, oder? Er renoviert die Einrichtung. Das Haus wäre dieses Jahr gar nicht zur Vermietung zur Verfügung gestanden, aber ich wollte unbedingt her.«
»Warum?« Erik legte sich zurück und verzog kurz das Gesicht.
»Weil mein Zwillingsbruder hier gestorben ist.«
Er riss die Augen auf. »Hier?«
»Nicht hier im Haus. Ich erzähle es dir morgen. Jetzt schlaf erst mal.« Sie zog die Decke über ihn. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht. Annika?«
»Ja?«
»Danke dir.«
Sie lächelte ihm zu. »Ich weiß nicht, was Jan sagen wird, wenn er erfährt, dass du in meinem Schlafzimmer übernachtet hast, aber gern geschehen.«
Er grinste und sah dabei unheimlich jung aus. Annika beobachtete, wie ihm langsam die Augen zufielen. Dann nahm sie seine Kleidung, die schmutzig von seinem Fall und noch nass von ihrem Wasserguss war, und stopfte sie in die Waschmaschine. Zurück im Wohnzimmer setzte sie sich an den Esstisch und legte das Gesicht in ihre Hände. Wo sollte das nur hinführen? Es durfte auf keinen Fall geschehen, dass sie sich verliebte.
Die halbe Nacht hatte sie damit zugebracht, Erik beim Schlafen zuzusehen. Es war ein Unding, sich in diesen Mann zu verlieben. Sie konnte es einfach nicht zulassen. Er war Jans Bruder. Obwohl sie keine romantischen Gefühle für Jan hatte, fühlte sie sich wie eine Verräterin. Er würde ihr das niemals verzeihen. Außerdem wollte sie Erik das nicht antun. Sie wusste, wie es laufen würde. Zuerst die große Leidenschaft und dann plötzlich die ebenso große Ernüchterung, gefolgt von einer emotionalen Leere. Sie verstand jetzt, warum sie immer das Gefühl hatte, etwas würde ihr fehlen. Es fehlte tatsächlich etwas. Ihr Zwillingsbruder. Ihre Seele wusste, dass sie nicht mehr vollständig war. Und sie konnte nichts dagegen tun. Konnte das Wissen darüber diesen Zustand verändern? Sie hatte Angst davor, es zu versuchen. Sie hatte bisher zwar jede Trennung selbst herbeigeführt, das hieß aber nicht, dass sie nicht darunter litt. Sven war noch gar nicht so lange her. Sie brauchte das nicht schon wieder.
Leise stand sie am Morgen auf, um Erik nicht zu wecken. Er schlief immer noch friedlich und sah auch schon deutlich besser aus. Vielleicht musste er doch nicht zum Arzt. Sie holte frische Kleidung aus dem Schrank und zog die Tür hinter sich zu, bis sie steckenblieb. Sie wollte sie nicht mit Gewalt schließen, denn davon wäre Erik mit Sicherheit aufgewacht.
Sie trat auf die Veranda hinaus und sah über den See. Es würde ein schöner Tag werden. Für eine Weile genoss sie den ruhigen Morgen, der von fröhlichem Vogelgezwitscher untermalt wurde. Dann holte sie Jans Visitenkarte und übertrug die Angaben in ihr Handy. Unschlüssig drehte sie es in den Händen. Sie zögerte, ihn anzurufen und ihm Rede und Antwort zu stehen. Stattdessen schickte sie ihm eine WhatsApp, dass es Erik gut ginge und er im Laufe des Tages wieder nach Hause käme. Postwendend kam eine Nachricht zurück. »Ich habe mich aufgeführt wie ein Idiot«, schrieb Jan. »Es tut mir wirklich leid, auch wegen Erik. Vielleicht können wir später reden.«
Sie schickte ihm einen hochgereckten Daumen und ein Kuss-Smilie zum Zeichen, dass sie ihm nicht böse war. Dann sah sie sich um. Sie wollte zusammen mit Erik frühstücken, aber er sollte in Ruhe ausschlafen. Was sollte sie bis dahin tun? Ihr Blick fiel auf den Laptop. Ihre Mutter war eine Frühaufsteherin. Vielleicht ging es ihr besser als gestern.
Kurzentschlossen fuhr sie den Computer hoch und funkte ihre Mutter an. Nach einer halben Minute wurde ihr Ruf beantwortet. Kerstin wirkte frisch und Annika wagte zu hoffen, ein weiteres Puzzleteil in der Geschichte ihrer Mutter aufdecken zu können.
































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