Kapitel 1

 

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Heiße Tränen brannten in Annikas Augen, als sie in das dunkle Loch hinabsah, in das gerade der Sarg hinabgelassen wurde. Sie bemühte sich, nicht zu weinen, doch dann fragte sie sich, warum. Es war die Beerdigung ihres Vaters und sie hatte jedes Recht dazu. Mit einem leisen Schluchzen gab sie dem Bedürfnis nach. Fast augenblicklich legte sich ein Arm um ihre Schultern und drückte sie tröstend. Iris hatte Annika gegenüber immer eine gewisse Reserviertheit an den Tag gelegt, doch eines war unbestritten: Ihre Stiefmutter hatte ihren Vater geliebt und litt unter seinem Verlust ebenso sehr wie sie. Annika lehnte sich an sie und fühlte sich ihr so verbunden wie noch nie.

Mit einem Rumpeln setzte der dunkle Eichensarg auf dem Boden auf und sie zuckte zusammen. Trotz des sonnigen Wetters fröstelte sie. Sie hatte schon lange gewusst, dass dieser Tag schneller kommen würde als ihr lieb war, und dennoch war es unfassbar, dass ihr Vater plötzlich nicht mehr da sein sollte. Zwei Tage hatte er nach ihrem letzten Gespräch noch durchgehalten, doch er hatte meistens nur vor sich hingedämmert. Zusammen mit Iris war Annika an seinem Bett gesessen und hatte seine Hand gehalten. Manchmal hatte sie einen leisen Druck gespürt, der ihr bewusst machte, dass ihr Vater ihre Anwesenheit wahrnahm. Sie sprachen mit ihm und bekamen vereinzelt eine gemurmelte und unverständliche Antwort, doch eine vernünftige Unterhaltung kam nicht mehr zustande. Vermutlich war das auch den starken Medikamenten geschuldet. »Wir können nichts mehr für ihn tun«, hatte der behandelnde Arzt gesagt. »Nur noch, ihm die letzten Tage erträglich zu machen.«

Es war bestimmt das Beste für ihn, doch Annika vermisste sein fröhliches Lächeln, das verschmitzte Zwinkern seiner grau-blauen Augen und seine ruhige, immer zuversichtliche Art. Wie sollte sie ohne ihn weiterleben?

Ihre Stiefmutter stupste sie sachte an. »Komm.«

Sie nickte und wischte sich die Tränen ab. Dann warf sie die roten Rosen, die Iris vor der Beerdigung besorgt hatte, in die Grube hinab auf den Sarg und ließ ihnen Weihwasser und eine Schaufel Erde folgen. Nach einem letzten schmerzerfüllten Blick trat sie zurück und beobachtete die vielen Menschen, die am Grab vorbeizogen.



Es waren einige fremde Gesichter dabei. Freunde und Kollegen ihres Vaters, die sie nie kennengelernt hatte. Sein Chef hatte eine kurze, aber bewegende Rede gehalten, bevor er einen Kranz der Firma niedergelegt hatte. Die Vorsitzenden der Vereine, in denen ihr Vater tätig gewesen war, hatten das ebenfalls getan. Er war sehr aktiv und beliebt gewesen. Der Gedanke wärmte Annikas Herz und trieb ihr erneut einen Schwall Tränen in die Augen.

Sie ließ ihren Blick über die bekannten Gäste schweifen. Die Geschwister ihres Vaters waren aus dem fernen Bayern angereist. Auch drei ihrer fünf Cousins und Cousinen waren gekommen. Ihre Großeltern dagegen hatten es abgelehnt, nach Norddeutschland zu fahren, was Annika nicht verstehen konnte. Schließlich wurde ihr Sohn beerdigt. Sie konnten ihm doch unmöglich noch im Tode grollen, dass er seine Heimat aufgegeben hatte und nach Hamburg gezogen war.

In Annikas Kindheit hatte es häufigere Besuche in Bayern gegeben, sie hatte auch manche Ferien bei den Großeltern verbracht. Doch nach der Scheidung war das alles eingeschlafen, vielleicht auch, weil ihr Vater die endlosen Vorwürfe nicht mehr hören konnte, er hätte seine Familie im Stich gelassen.

Wer allerdings nicht anwesend war, war ihre Mutter. Annika hatte vergeblich gehofft, dass sie kommen würde. Dabei war es nicht überraschend. Sie würde bestimmt eine Ausrede parat haben. Vielleicht hatte sie Kopfweh oder hatte sich nicht aufraffen können.

Dass es Annika nicht überraschte, bedeutete nicht, dass sie nicht bitter enttäuscht war. Ihre Mutter hatte es nicht ein einziges Mal über sich gebracht, ihren Ex-Mann während seiner letzten Tage im Krankenhaus zu besuchen, aber wenigstens zur Beerdigung hätte sie erscheinen können. Sie hatte ihn doch einmal geliebt und auch nach der Scheidung war ihr Vater immer für sie da gewesen. Er hatte sich um alle Dinge gekümmert, die für ihre Mutter zu schwierig waren, und dafür gesorgt, dass es ihr an nichts fehlte. War es wirklich zu viel verlangt, ihm das letzte Geleit zu geben?

Aber ein anderes Gesicht überraschte Annika. Sven war da. Prompt begann ihr Herz aufgeregt gegen ihre Rippen zu klopfen. Er sah so gut aus in der schwarzen Jeans und dem dunklen Hemd, das seine blonden Haare betonte. Es war sehr anständig von ihm, zu kommen. Annika sehnte sich nach dem zärtlichen Streicheln seiner Hände und sie wünschte sich, sie könnte sich einfach in seine Umarmung fallen lassen.



Er lächelte sie an, als er ihrem Blick begegnete, und beschämt wandte sie sich ab.

Doch er wartete am Tor auf sie, als sie mit Iris als Letzte der Trauernden den Friedhof verließ.

»Hast du kurz Zeit, Annika?«, fragte er.

»Ist ein schlechter Moment«, wich sie aus.

»Ich weiß. Aber wir müssen reden.«

»Nicht jetzt, Sven, ich bin viel zu sehr durch den Wind.«

»Das verstehe ich.« Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. Annika wehrte sich kurz, doch dann ließ sie es geschehen. Das vertraute Gefühl tröstete sie und sie lehnte sich an seine Schulter.

»Es tut mir so leid mit deinem Vater«, flüsterte er an ihrem Ohr. »Er war ein feiner Kerl.«

»Ja, das war er.« Mehr fiel ihr nicht ein.

Iris räusperte sich neben ihr. »Wir müssen los. Unsere Gäste warten.«

»Ja.« Annika löste sich von Sven. »Sei nicht böse, aber ich muss …«

»Ich weiß«, nickte er verständnisvoll. »Wir reden später.« Er drückte Iris die Hand, murmelte einige Beileidsworte und wandte sich um.

Annika sah ihm nach. Wieso hatte sie diesen großartigen Mann gehen lassen? Selbstironisch verzog sie die Mundwinkel, als sie ihrer Stiefmutter folgte. Sie hatte Sven nicht gehen lassen, sie hatte ihn fortgestoßen. Sie hatte Schluss gemacht, nicht er. Für ihn war das Ende wie aus heiterem Himmel gekommen und sie wusste, dass er es immer noch nicht verstehen konnte. Sie verstand es ja selbst nicht. Sie hatte gedacht, ihn wirklich zu lieben. Doch dann war es wieder aufgetaucht. Dieses Gefühl, etwas zu vermissen. Irgendetwas fehlte ihr, etwas, das sie nicht benennen konnte. Etwas, das verhinderte, dass sich die Liebe auf Dauer in ihrem Herzen einnisten konnte. Es war klar, worüber Sven reden wollte, aber wie sollte sie ihm etwas erklären, das sie selbst nicht ergründen konnte? Am Anfang einer Beziehung hing ihr Himmel voller Geigen und sie war zuversichtlich, den Mann fürs Leben gefunden zu haben. Doch nach einer Weile flachte die Liebe ab und sie war nicht mehr fähig, sich mit ihrem ganzen Herzen darauf einzulassen. Bei Sven hatte es zwei Jahre gedauert, bis sie eines Morgens aufgewacht war und erkannte, dass sie ihn nicht genug liebte, um ihr Leben mit ihm zu verbringen. Mit bitterer Verzweiflung hatte sie gegen dieses Gefühl der Leere angekämpft, mit dem Ergebnis, dass sie häufig mit Sven gestritten hatte. Wegen nichtiger Kleinigkeiten, die normalerweise kaum ein weiteres Wort wert gewesen wären. Und eines Abends hatte sie Schluss gemacht. Es tat ihr immer noch weh, wenn sie daran dachte, doch sie wusste, dass sie richtig gehandelt hatte.



Aber Sven wusste es nicht. Er hatte sie mit Anrufen bombardiert, die sie ausweichend beantwortet hatte, bis ihr nichts mehr einfiel und sie ihn nur noch wegdrückte. Als es ihrem Vater schlechter ging, hatte er ihr seinen Beistand angeboten, sie jedoch in Ruhe gelassen, als sie darauf nicht reagierte. Und jetzt war er wieder da.

Während sie sich beim Essen mit ihrer Familie und den anderen Trauergästen unterhielt, versuchte sie, Sven aus ihren Gedanken zu verbannen, doch es gelang ihr nur unvollständig. Sie war froh, als die Feier dem Ende zuging und sie schließlich mit Iris in ihrem Corsa saß.

»Es war eine schöne Beerdigung«, bemerkte sie zu ihrer Stiefmutter, die den Blick abgewandt hatte und aus dem Fenster starrte.

»Das war es«, stimmte Iris zu. »So viele Menschen. Ich wusste, dass dein Vater sehr beliebt war, aber das hat mich doch überrascht.« Sie drehte sich zu Annika um. »Warum hast du Sven nicht zur Trauerfeier eingeladen?«

»Wir sind nicht mehr zusammen.«

»Was?« Iris starrte sie entgeistert an. »Seit wann?«

»Drei Wochen.«

»Warum hast du uns das nicht erzählt?«

»Ich wollte Papa nicht enttäuschen. Er mochte Sven so gern.«

»Stimmt. Er hat in ihm schon seinen Schwiegersohn gesehen. Einmal sagte er zu mir, er wünschte sich, lange genug zu leben, um dich als Braut sehen zu können.«

Annika drehte es bei diesen Worten das Herz um und sie drückte unbewusst aufs Gaspedal.

»Du fährst zu schnell«, kommentierte Iris trocken.

Sie passte ihre Geschwindigkeit an. »Es hat letztendlich nicht mit uns funktioniert«, erklärte sie.

»Und was war es dieses Mal?« Der spitze Ton war nicht zu überhören.

Annika zuckte mit den Schultern.

»Ich vermute, dass du Schluss gemacht hast.« Iris seufzte hörbar. »Sven ist ein guter Mann. Glaubst du, du findest einen Besseren?«

Annika schnitt eine klägliche Grimasse. Vermutlich nicht. Aber sie wollte nicht darüber sprechen. »Was ist eigentlich mit diesem ominösen Umschlag, den Papa erwähnt hat? Den du mir geben sollst?«

Iris wandte sich ab. »Nicht jetzt, Annika«, erwiderte sie kühl.

»Wann dann? Ich warte seit diesem Gespräch darauf, dass du ihn mir gibst. Du hast ihn doch, oder?«

»Ja, ich weiß, wo er ist.« Iris sah immer noch aus dem Fenster. »Aber ich bin nicht sicher, ob du ihn wirklich bekommen sollst.«



»Wieso?«

»Man soll die Vergangenheit ruhen lassen. Du reißt nur alte Wunden damit auf. Und ich sorge mich, was es dir antut.«

»Du sorgst dich?« Annika zog die Augenbrauen hoch. Dass sich ihre Stiefmutter um sie Gedanken machte, war etwas Neues.

»Ja, das tue ich.« Ruckartig drehte sich Iris zu ihr um. »Du tust immer so, als wärst du mir egal. Aber das ist nicht der Fall. Und ich beschwöre dich, diesen Umschlag zu vergessen. Es bringt dir nur Schmerz, zu wissen, was darin steht. Und du kannst es doch nicht mehr ändern.«

Annika warf ihr einen kurzen Blick zu, bevor sie sich wieder auf die Straße konzentrierte. Iris’ Worte waren perfekt, um ihre Neugier anzustacheln. Dennoch wurde sie unsicher. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber sicher nichts, das ihr selbst Schmerz zufügte. »Dann sag mir doch einfach, was drin steht.«

»Ach Annika, das ist nicht so leicht. Deine Eltern hätten es dir vor langer Zeit erzählen sollen, doch Kerstin wollte es nicht. Vermutlich, um dich zu schützen. Sie wird gar nicht glücklich sein, dass dein Vater es überhaupt angesprochen hat. Lass es einfach dabei.«

Annika hielt vor dem Reihenhaus in einem Hamburger Vorort, in dem Iris nun allein wohnte. »Papa wollte, dass ich es weiß.«

Ihre Stiefmutter nickte ergeben. »Gut, ich hole dir den Umschlag. Magst du mit reinkommen?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte jetzt nicht in die Wohnung gehen, in der alles noch nach ihrem Vater roch und es so schien, als würde er gleich um die Ecke kommen. »Ich warte.«

Iris nahm ihre Tasche und stieg aus. Nur wenige Minuten später kam sie zurück, in der Hand einen dicken DIN-A5-Umschlag, dessen braune Farbe schon verblasst war. Sie reichte ihn Annika durchs Fenster. »Es ist nicht gut, in der Vergangenheit zu wühlen«, murmelte sie. »Du weißt nicht, was du alles aufdeckst.«

»Gibt es denn etwas aufzudecken?«, versuchte Annika einen Scherz, doch der Blick ihrer Stiefmutter ließ sie verstummen.

»Wenn du Fragen hast, geh zu deiner Mutter«, sagte Iris distanziert. »Lass mich damit bitte in Ruhe.« Mit diesen Worten wandte sie sich um und ging ins Haus.

 

Unentschlossen drehte Annika den alten Umschlag in den Händen. Sie war schon drauf und dran, ihn aufzureißen, doch dann legte sie ihn zur Seite. Nicht hier im Auto. Sie brannte darauf, zu erfahren, was er enthielt, aber das wollte sie in aller Ruhe zu Hause tun. In ihren eigenen vier Wänden, wo sie niemand störte. Sie ließ den Motor an und wendete.



Sie musste sich beherrschen, um nicht zu schnell zu fahren. Immer wieder fiel ihr Blick auf den Umschlag auf dem Beifahrersitz. Was würde sie darin finden? Im Leben ihrer Eltern schien etwas vorgefallen zu sein, das auch sie selbst betraf. Sie sogar jetzt noch beeinflussen konnte, wenn sie Iris glauben durfte.

Sie wohnte in einem Dorf auf halbem Weg zwischen Kiel und Neumünster, dem Heimatort ihrer Mutter. Das kleine Haus hatte einst ihrer Großtante gehört. Es war ein Fertighaus, das weder über Keller noch Dachboden verfügte und außer Bad und Küche nur drei weitere Zimmer hatte. Für Annika war es perfekt. Vielleicht zu perfekt. Denn es war nie für sie infrage gekommen, das Haus aufzugeben.

Sie parkte am Straßenrand und lief um die Ecke, den verblichenen braunen Brief in der Hand. Sie fühlte einen kleineren Umschlag darin, der etwas Festes beinhaltete. Vielleicht Fotos? Möglicherweise Aufnahmen aus der Jugend ihrer Eltern? Oder ihrer eigenen Kindheit? Es gab erstaunlich wenig Bilder aus ihren frühen Lebensjahren im Album ihrer Mutter. Als Annika den alten Schinken zum ersten Mal durchgeblättert hatte, war sie fast beleidigt gewesen, dass man sie so selten geknipst hatte. Aber was sollten solche Fotos für ein Geheimnis beinhalten? Sie seufzte und beschleunigte ihre Schritte. Sie hatte Angst vor dem Blick in den Umschlag und konnte es dennoch kaum erwarten.

Abrupt blieb sie stehen. Auf der Eingangsstufe saß Sven und lächelte ihr entgegen. Das passte ihr nun wirklich überhaupt nicht. Doch sie hatte ihn schon zu lange hingehalten. Sie zwang sich zu einem Lächeln, das allerdings ziemlich verkrampft ausfiel.

»Bist du böse?«, fragte er vorsichtig. »Ich weiß, dass es eine blöde Zeit ist. Aber ich will bei dir sein, wenn es dir dreckig geht.«

»Es geht mir nicht dreckig«, widersprach sie.

»Komm schon, Nicky, du hast gerade deinen Vater beerdigt. Du kannst mir nicht erzählen, dass es dir gut geht.«

Aber Seelengespräche mit ihrem Ex-Freund halfen da auch nicht weiter. Was sollte sie tun, wenn Sven anfing, zu klammern? »Kommst du mit herein?«, fragte sie.

Bereitwillig stand er auf. »Gerne.«

Innerlich seufzend schloss Annika die Haustür auf und legte den Umschlag auf der kleinen Kommode im Flur ab. Die große Enthüllung musste noch ein wenig warten.



Sie bat Sven ins Wohnzimmer und verschwand, um sich umzuziehen. Als sie in Jeans und einem T-Shirt zurückkam, hatte er ihnen bereits Getränke eingeschenkt. Sie spürte einen feinen Stich im Herzen, als sie sah, wie selbstverständlich er sich in ihrem Haus bewegte. Er wohnte ja fast selbst hier.

Er reichte ihr ein Glas Cola. »Sag mir warum, Nicky«, meinte er bedrückt.

»Ach Sven, das habe ich dir doch schon erklärt.«

»Nein, hast du nicht. Nicht so richtig. Was habe ich falsch gemacht?«

»Nichts. Es liegt nicht an dir, sondern nur an mir, wirklich.«

»Habe ich dir zu wenig Freiheit gelassen? Ich weiß, dass ich dich bedrängt habe, zu mir zu ziehen. Wenn es das ist, lass uns darüber reden. Wir finden bestimmt eine Lösung.«

»Das ist es nicht, wirklich nicht.«

Die Frage, wo sie letztendlich wohnen sollten, war ein ständiger Diskussionspunkt zwischen ihnen gewesen. Sven arbeitete in Hamburg und wollte sein Appartement dort nicht aufgeben, doch Annikas Leben war hier.

»Ich meine, ich habe wirklich nicht viele Chancen, hier im Umkreis eine Arbeit zu finden«, begann er grinsend, »während man auch in Hamburg jede Menge Bürokauffrauen braucht, aber wenn dein Herz so sehr an diesem Ort hängt …«

»Sven, bitte, ich habe gesagt, daran liegt es nicht.«

»Woran dann? Ich liebe dich, Nicky.«

Annikas Herz begann bei dem Kosenamen zu pochen. Nur er nannte sie so. »Ich liebe dich auch«, gestand sie. »Aber das ist nicht genug.«

»Wie kann es nicht genug sein, sich zu lieben?«, fragte er erstaunt. »Wenn wir uns lieben, können wir alle Probleme aus der Welt räumen. Irgendein Kompromiss findet sich immer.«

»Ich kann es dir nicht erklären, Sven, so sehr ich es auch möchte. Es ist nur ein Gefühl, dass mir etwas fehlt. Etwas, das ich noch in keiner Beziehung gefunden habe. Da ist eine unbestimmte Sehnsucht in mir und ich weiß nicht, wonach. Es liegt wirklich nicht an dir. Vielleicht bin ich einfach dazu bestimmt, Single zu bleiben.«

»Das glaubst du doch selbst nicht.« Sven stellte sein Glas ab und nahm sie in die Arme. »Warum fliegen wir nicht noch einmal zusammen? Das hat dir immer Spaß gemacht. Wir machen einen Rundflug über die ganze Gegend. Du wirst sehen, wie klein deine Probleme von oben aussehen.«



Annika lächelte wehmütig. Die Fliegerei war ihr gemeinsames Hobby gewesen. Sven am Steuerknüppel und sie als Passagier. Er war ein hervorragender Pilot. Sie liebte es, die Welt aus der Höhe zu betrachten. Und er hatte recht. Die Probleme konnten tatsächlich für eine Weile verschwimmen. Doch kaum setzte man am Boden auf, waren sie mit voller Wucht wieder da.

»Es geht nicht, Sven.« Sie drückte ihn von sich fort. »Bitte akzeptiere das einfach. Du verdienst etwas Besseres als mich. Ich würde dich nur unglücklich machen.«

»Darauf lasse ich es ankommen.«

»Aber ich nicht. Mach es mir doch nicht so schwer.«

»Ich gebe dir Bedenkzeit«, schlug Sven vor. »Ein paar Wochen, vielleicht sogar bis nach den Sommerferien, dann werden wir weitersehen.«

»Nein, werden wir nicht«, fuhr Annika auf. »Sieh es doch ein, Sven, es ist aus. Quäl dich nicht weiter. Und mich auch nicht. Lass mich in Ruhe. Bitte.«

Er sah sie nur an. Mit einem gekränkten Gesichtsausdruck, der sie betroffen machte. Doch wenn sie jetzt einlenkte, war diese Diskussion niemals beendet. »Wir hatten eine schöne Zeit, Sven«, sagte sie leise. »Aber sie ist vorbei. Lass mich gehen.«

Seine Mundwinkel zuckten. »Na gut. Dann ist das wohl das Ende. Leb wohl.« Er drehte sich um und lief zur Tür.

Annika öffnete schon den Mund, um ihm nachzurufen, doch sie biss sich auf die Lippe. Es war besser so. Der Knall der Haustür schnitt ihr ins Herz, als wieder einmal ein Kapitel ihres Lebens zu Ende ging.

 

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