Kapitel 4
An nur einem Ort versammeln sich die schönsten Orte der Welt. Unterschiedliche Klimazonen. Landschaften mit ihren schönsten Seiten. Eine riesige Galerie von beeindruckenden Künstlern. Staunend lässt Clive seinen Blick durch das riesige Anwesen gleiten. Die Räumlichkeiten von Tageslicht durchflutet. Nicht zugestellt. Hier stehen die Kunstwerke im Mittelpunkt und werden beeindruckend stark in Szene gesetzt. Die Luft an jenem Ort wirkt ungewöhnlich frisch und begleitet von einer feinen Blumennote durch die anliegenden Gärten. Eins der Bilder zieht Clive besonders in den Mann. Das Meer hat ihn schon immer fasziniert, ein Blick auf das Gemälde und er fühlt sich in seine Erinnerung zurückversetzt. Das Rauschen der Wellen, die Möwen am Himmel, der Sand zwischen den Zehen und diese frische Luft. Alles wirkt für diesen kurzen Moment so real. Plötzlich schwindet die Erinnerung und wird gegen wunderschöne ozeanblaue Augen getauscht. Der Seelenspiegel der Sklavin. Die vermeintliche Hexe. Eine unbeugsame Frau, die sich von ihrer Lage nicht einschüchtern mag. Noch immer bewundert er sie für ihre Stärke. Wie sie trotz Gefangenschaft den Kopf hebt und den Augenkontakt nicht scheut. Es grämt Clive, dass keine Unterhaltung zu ihr zustande kam. Wie gern hätte er den Klang ihrer Stimme vernommen. Wie gern würde er ihren Gedanken und Sorgen lauschen.
„Clive, trödel nicht!“
Linus giftiger Ton reißt ihn brutal aus seinen Gedanken. Ein paar Sekunden müssen vergehen, um sich daran zu erinnern, wo er sich befindet und was ihn an diesen Ort verschlug. Seine Tagträumerei bringt ihn in Verlegenheit. Die Wachen im Anwesen des Grafen betrachten ihn bereits skeptisch. So wie die Mehrheit der Leute, denen er über den Weg läuft. Clive verliert sich gern in seinen Gedanken. Er blendet die Welt um sich heraus. Mitten in Gesprächen, im Unterricht oder auch unterwegs auf Reisen.
„Wart Ihr schon einmal am Meer?“
Die Frage seitens des Paladins klingt nicht verurteilend oder spöttisch. Ganz im Gegenteil. Clive hört ehrliche Neugier heraus. Der Mann namens Cuno war während der Kutschfahrt sehr gesprächig. So konnte Clive seinen Namen in Erfahrung bringen. Trotz Linus Bissigkeit blieb Cuno freundlich ihm gegenüber. Ein untypisches Verhaltensmuster gegenüber Alchemisten. Vielleicht nur ein Schauspiel. Reine Strategie. Und doch zur Abwechslung angenehm und erfreulich. Bislang bot sich nie solch eine Gelegenheit für ein entspanntes Gespräch zwischen den Gesetzeshütern. Eine Chance, die Clive dankbar begrüßt, denn er konnte viele neue Details in Erfahrung bringen. Etwas über den Alltag und die Ausbildung von Paladinen. Cuno brüstet sich nicht mit seinem Titel. Er verschloss sich nicht und wirkte sogar positiv überrascht über Clives Neugier. Eine Kutschfahrt, die leider viel zu schnell geendet hat. Denn Clive hätte das Gespräch zu ihm gern weiter vertieft.
Stille statt einer Antwort. Erst als Linus seinen Begleiter für seine Gedankenlosigkeit tadelt erwacht Clives Geist und erinnert sich an die Frage des Paladins. Ein Räuspern. Ganz verlegen.
„Einmal kam ich auf den Genuss des Meeres, es war einer der schönsten Tage meines Lebens. Wie steht es mit Euch? Wart Ihr schon mal dort?“, erkundigt sich der Alchemist.
„Leider hatte ich noch nicht das Vergnügen“, antwortet Cuno ihm mit einem freundlichen Lächeln und einer Sehnsucht auf dem Herzen, wenn er das Gemälde anvisiert.
Linus belächelt den Paladin spöttisch und streckt die Nase ganz weit hoch. Mit einem abartigen selbstgefälligem Grinsen, das Clive nicht gutheißen kann. „Pah! Ein großer Vorteil nicht im Dienste der Krone und des Adels zu stehen! Als Söldner komme ich viel umher und bin nicht an nur eine Ortschaft gebunden.“
„Ihr habt einen unangenehmen Zeitgenossen an Eurer Seite, Clive“, bemerkt Cuno beiläufig. Bewundernswert ruhig. „Seid Ihr sicher, dass ich Euch nicht beim Tragen des Koffers behilflich sein soll?“
Clive umklammert den Griff seiner Tasche aus schwarzem Leder feste.
„Nein danke, Cuno. Dieser Koffer symbolisiert, was ich bin.“
Einen Weg, der Clive mit Stolz erfüllt. In seinem Koffer befinden sich nur Schätze der Alchemie, sondern auch viele wertvolle Erinnerungen. Eine Reihe von Schriften, die ihm vor Augen hält, was er bereits alles selbstständig bewerkstelligt hat und welche Zukunftswünsche er seit klein auf verfolgt.
Zum Glück nimmt Cuno das Thema stillschweigend hin und klopft an zwei großen Flügeltüren, bevor er sich zu den Gästen dreht.
„Wartet bitte kurz.“
Kaum ausgesprochen, tritt er durch einen Türspalt und verschwindet somit aus ihrem Sichtfeld. Clive entgeht dabei nicht, wie Linus den Knauf seines Schwertes umklammert.
„Das gefällt mir nicht“, brummt der Söldner.
Er unterschätzt Clive gewaltig. Als wäre der Alchemist auf einen Hinterhalt nicht vorbereitet, aber in seiner Hosentasche befinden sich zwei Flaschen, deren Inhalt für ein plötzliches Verschwinden ganz hilfreich werden kann. Rauchpulver, das Glas muss nur auf dem Boden zersplittern und schon können sie im Schutz einer dichten Materie verschwinden.
Einige Augenblick später öffnen sich die Türen, Cuno lächelt ihnen dabei freundlich entgegen und tritt zur Seite. Denn sein Her tritt nun ins Bild. Ein gepflegter Mann gesteckt in dunkler, feinster Kleidung beäugt seine Gäste. Clive kann er nicht täuschen. Die Tage waren für den Grafen anscheinend nicht ganz leicht, die Spuren sind in seinem Gesicht deutlich sichtbar. Auffällig sind die vielen Sorgenfalten auf der Stirn. Die magere Statur spricht nicht für den Wohlstand eines Adeligen. Seine smaragdgrünen Augen sind leer und glasig. Angeschwollene Tränensäcke lassen sich nicht verstecken. Getrocknete Tränen lassen großen Kummer vermuten.
Der Graf betrachtet Clive mit einem konzentrierten Zug. Er zupft sich an seinem schwarzen Bart, bevor seine Finger durch das rabenschwarze Haar fahren.
„Verehrter Alchemist, …“
Allein dieser Anfang bereitet Clive Sorge, denn so sprechen keine Adeligen mit ihm.
„…ich wende mich verzweifelt an Euch. Denn ich bin am Ende meines Wissens. Meine Tochter ist schwer krank. Schwester Hildegard kann ihr nicht helfen, mein Kind wurde zu meinem Bedauern aufgegeben. Es heißt, unheilbare Krankheiten seien Gottes Strafe, aber meine junge Tochter hat nichts verbrochen. Nichts, womit sie solch ein Schicksal verdient hätte. Ich bitte euch aufrichtig, rettet meinen kleinen Engel. Sie ist alles, was mir von meiner verstorbenen Frau geblieben ist.“
Am Ende seiner Bitte erwacht die versiegte Quelle und Tränen der Verzweiflung bahnen sich einen Weg hinaus.
Ein schmerzlicher Anblick, dem Clive immer wieder ausgesetzt wird und ihm zum Tatendrang bewegt.
„Wo ist Ihre Tochter?“
Clive hat genug gehört. Er möchte keine Zeit verlieren und sich das Kind ansehen. Der Graf nickt ihm zu und bittet sie herein in das liebevoll gestaltete Kinderzimmer mit den prächtigen Wandmalereien von Schmetterlingen und Blumen. Seine Tochter hat eine beachtliche Sammlung von Puppen und sogar ein Schaukelpferd. Doch all das hat für Clive keinen Belang. Eine Patientin braucht ihn und nähert er sich dem kleinen Mädchen, das streng das Bett hütet. Am großen Himmelsbett stellt der Alchemist seinen Koffer am Boden ab. Ihm fallen die bereits ausgefallenen Fingernägel auf und die schreckliche Tatsache, dass arme Kind an Armen und Beinen fixiert wurde.
Der Graf erklärt ihm erschöpft: „Wegen den Krämpfen und den Wahnvorstellungen mussten wir so handeln, bevor sie sich selbst verletzt hätte. An ihrem Körper befinden …“
Clive blickt auf und kommt dem Grafen zuvor: „Hautschwellungen und Blasenbildung.“
Überrascht nickt ihm der Vater des Kindes zu. Mit großer Vorsicht betrachtet der Alchemist die Arme des Kindes.
„Schwester Hildegard behauptet, es sei das Antoniosfeuer“, berichtet der Graf ihm.
Mit Sorge hebt Clive die Decke an. Ein Blick auf die freien Füße des Kindes und er atmet erleichtert auf.
„Gut, ich sehe keine Fäulnis. Aber es muss schnell gehandelt werden! Ich kann ihr helfen. Es ist ein Pilzbefall. Ich bin mir sicher, wir reden hier von Mutterkorn. Das Gegenmittel habe ich in kurzer Zeit verabreicht. Ihr müsst euer Korn länger lagern und die Ernte auf den Pilz untersuchen“, rät ihm Clive und schnappt sich seinen Koffer.
Der Graf beobachtet, wie der Alchemist im Handumdrehen das Gegenmittel zusammengemischt hat und seiner Tochter verabreicht. Das junge Kind ähnelt ihrem Vater sehr, sie hat seine Augen und Haare. Der Pilzbefall laugt sie jedoch ordentlich aus. Durch die Verengung der Gefäße kommt es hierbei zu Durchblutungsstörungen. Mögliche Spätfolgen wären dann das Absterben der Gliedmaßen. Aber zum Glück hat ihr Vater schnell genug gehandelt.
Eine flüchtige Berührung an der Schulter zeigt, die Patientin befindet sich in einer Wachphase. Ganz schwer heben sich ihre Augenlieder und der von Schmerz gepeinigte Ausdruck versetzt dem Alchemisten ein Stich ins Herz. Wie gern würde er sich munter sehen, so wie die zwei Kinder vom Verkaufsstand.
„Es wird dir schon bald besser gehen“, verspricht Clive dem Mädchen ganz sanft.
Ihre eingerissenen Lippen öffnen sich und mit schwacher Stimme behauptet sie: „Ich brenne.“
Eine Aussage, die These mit dem Mutterkorn leider unterstützt. Viele Betroffenen sprechen von diesem Empfinden.
„Gleich nicht mehr“, äußert sich Clive mitfühlend dazu.
„Das sagt sie immer wieder“, berichtet der besorgte Vater und läuft unruhig umher, „Sie hat es geschrien! Unzählige Male! Grauenvolle Stunden, bis ihr die Kraft dafür fehlte.“
Clive nickt wissend. Der Pilz enthält bedauerlicherweise eine Reihe hochgiftiger und psychoaktiver Alkaloide, die Halluzinationen und das brennende Gefühl auslösen. Vom Feuer aufgefressen und zurück bleibt ein Körper schwarz wie Holzkohle – heißt es oft im Volksmunde. Tatsächlich ein passender Vergleich. Eine gefürchtete Krankheit. Eine Epidemie. Wo ein Patient liegt, da liegen auch schnell weitere. Clive kann mit viel Arbeit rechnen.
Ein Keuchen entweicht dem Grafen. Mit nassem Gesicht betrachtet er seinen Gast.
„Sagt, könnt Ihr sie retten?“
„Ich kann!“
Clive mag an seine Patienten glauben. Gemeinsam bekämpfen sie die Krankheit. Die Adelstochter ist jung. Er mag dieses junge Leben retten. Ansonsten wird er als Alchemist hinschmeißen!
Der Adelige klammert sich verzweifelt an den Hoffnungsschimmer und beschließt: „Ich bestehe darauf, dass ihr bis zu ihrer vollständigen Genesung als meine Gäste hierbleibt. Sollte meine Tochter diesen Wahnsinn heil überstehen, dann entlohne ich Euch mit viel Gold.“
Seiner Stimmlage zu urteilen, duldet er keine Widerworte und doch ist das Angebot zu großzügig für den Alchemisten.
„Nein, das kann ich nicht annehmen. Das hier gehört zu meinen Pflichten, selbstverständlich werde ich bleiben. Wenn Ihr erlaubt, sehe ich mir Eure Felder an. Ihr dürft diese nicht niederbrennen, sonst atmen Eure Untertanen die Pilzsporen ein und dieser Fall wird als Seuche gemeldet“, informiert Clive den Grafen.
Dieser betrachtet seinen Gegenüber misstrauisch, bevor er in Erfahrung bringen möchte: „Wie kann ich Euch für Eure Dienste entlohnen?“
„Der Alchemist interessiert sich für die Hexe, Eure Hoheit“, meldet sich Cuno aus dem Hintergrund.
„Die Hexe? Etwa das Mädchen beim Sklavenhändler?“, hinterfragt der Graf verwundert nach.
Sämtliche Anspannung fällt von dem Adeligen.
Clive schlägt die Augen nieder, schließlich wollte er das Thema langsam angehen.
„Ganz Recht“, antwortet der Paladin seinem Herrn.
Der Alchemist rechnet mit Spott, stattdessen berichtet der Graf ihm: „Ich hatte vor diese Versammlung zu zerschlagen, der Sklavenhändler geht zu weit. Ich dulde den Verkauf von Hexen nicht.“
„Was habt ihr vor mit der Hexe?“, möchte Clive in Erfahrung bringen.
„Das Gesetz ist eindeutig, eine Hexe wird auf dem Scheiterhaufen verbrannt“, antwortet der Graf in einem strengen Tonfall.
Das hatte der Alchemist befürchtet.
„Tja, dann hat sich die Sache ja geklärt.“
Das scheint Linus zu freuen.
„Wenn die Versammlung zerschlagen wird und die Hexe unseren Fängen entkommt, dann können wir aber nichts daran ändern“, beginnt der Graf.
Es folgt eine dramatische Pause, woraufhin Clive schlagartig zu ihm aufblickt.
„…sobald meine Tochter geheilt ist, bestehe ich aber darauf, dass du mit dieser Hexe mein Reich verlässt. Sonst bringst du mich in große Schwierigkeiten, ich kann sie hier für einige Tage beherbergen. Du musst diese Flügel verstecken, vielleicht unter einem Umhang. Was erhoffst du dir von der Hexe, wenn ich fragen darf?“
Kaum spricht der Graf zu Ende, fällt Linus die Kinnlade hinab. Zeit für Clive, um einen Punkt zu sprechen, worüber er sich viele Gedanken gemacht hat. Denn Kleidung, Frisur und Körperbemalung sprechen für einen entfernten, noch unbekannten Ort.
„Sie ist weit von Zuhause weg, wenn es ihr Wunsch ist, dann möchte ich sie sicher zurück bringen“, antwortet der Alchemist.
Der Graf betrachtet ihn zuerst mit großen Augen, bevor er losprustet. Er bricht in schallendes Gelächter aus und klopft dem Alchemisten amüsiert auf die Schulter. Clive weiß nicht so ganz, was er hiervon halten soll. Schließlich will er doch nur helfen, darüber sollte so nicht gelacht werden.
„Du bist mir ja ein feiner Kerl“, lächelt der Graf.
„Das ist Verrat an den König!“, nimmt Linus dem Grafen mit einem Schlag die gute Laune.
Cuno handelt und richtet sein Schwert auf Linus, sein Herr nähert sich nun dem Söldner mit einem grimmigen Ausdruck.
„Muss ich dich erst fürs Schweigen bezahlen, Söldner?“, fragt der Graf ihn mit einem düsteren Ausdruck.
„Wenn der König von diesem Unterfangen erfährt, dann sind wir tote Männer! Nicht ohne Grund werden Hexen hingerichtet! Seht Ihr denn nicht, dass sie bereits das Herz des Alchemisten gestohlen hat! Ein fähiger Mann, der kurz nach ihrer Begegnung kriminell werden möchte!“, versucht Linus bei ihnen durchzudringen.
Nun stellt der Graf Clive vor die Wahl: „Du hast deinen Begleiter gehört, Alchemist. Willst du dieser Hexe immer noch helfen? Obwohl du die Folgen kennst? Wenn der König hiervon erfährt, dann droht uns allen die Hinrichtung.“


























Kommentare